Der Mond ist aufgegangen

Der Esstisch in unserer großen Wohnküche ist verwaist. Seit Johannes nicht mehr da ist, sitze ich lieber auf der Couch im Wohnzimmer. Dabei läuft dann der Fernseher. Und so habe ich heute morgen beim Frühstück die Übertragung der Trauerfeier von Helmut Schmidt gesehen. Hätte mir ja denken können, dass Trauerfeiern nicht spurlos an einem Trauernden vorbei gehen. Was mich letztlich aber umgehauen hat, war dann doch überraschend. Schmidt, so erfuhr ich, hatte sich für die Feier das Lied „Der Mond ist aufgegangen“ gewünscht. Dieses habe ihn sein Leben lang begleitet.

So ging es Johannes und mir auch. Kurz nachdem er krank geworden ist, haben wir angefangen Schlaflieder zu singen. Egal wie schön oder schrecklich der Tag auch war – wir haben ihm einen versöhnlichen, zärtlichen Schlusspunkt gesetzt. Es gab Zeiten, da sind wir gemeinsam ins Bett gegangen, monatelang aber brauchte er mehr Schlaf als ich, also brachte ihn zu Bett, wie es Eltern hoffentliche mit ihren Kindern tun. Auf der Bettkante sitzend, fragte ich dann eher rhetorisch: „Na… noch ein Gute-Nacht-Lied?“ – „Gerne“, war die wohl häufigste Antwort. „Welches?“ Damit hatte Johannes dann die Wahl zwischen vier Liedern. Dieses kleine Repertoire haben wir uns irgendwann mal herausgepickt, die Texte kannten wir auswendig, notfalls lagen sie auch ausgedruckt neben dem Bett.

Der Mond ist aufgegangen
Die Blümelein, sie schlafen
Weißt Du wieviel Sternlein stehen?

Und wenn er besonders erschöpft war, sagte er „… aber nur ein kurzes“. Damit kam dann nur das vierte, nämlich „Guten Abend, gute Nacht“ in Frage.

Meistens hat er mitgesungen. Dabei war er nicht ganz so hoffnungslos unmusikalisch, wie er anderen gegenüber behauptete. Vorher anzustimmen war trotzdem überflüssig, weil er seinen Ton nicht willentlich anpassen konnte. Also haben wir irgendwo losgesungen und uns oft schon nach Sekunden auf eine Stimmlage geeinigt. Je nach Tagesform hat er den Ton dann bis zum Liedende gehalten, erwartete dafür aber auch ein Lob. Ach, war das schön.

Ausgesetzt haben wir das Ritual eigentlich nur, wenn wir  auf Reisen waren. Irgendwie passte es nicht an ein Hotelbett oder in eine Schiffskabine. Sonst aber war es immer da, ein feiner, roter Faden in der Zeit der Krankheit. Selbst in den allerletzten Tagen haben wir noch gesungen. Zuletzt nur noch ich allein für ihn.

Während ich das hier schreibe, läuft noch der Fernseher. Mit einem Ohr höre ich hin und bekomme gleich noch ein Déjà-vu verpasst. „Ein jegliches hat seine Zeit“, sagt der Geistliche. „Geboren werden hat seine Zeit. Weinen hat seine Zeit. Lachen hat seine Zeit.“ Ich mach mal aus.

1 Comment

  1. Oh…. lieber Erik,
    umarmen wir uns jetzt einmal gedanklich… wenn du es mir erlaubst…Was war das heute für ein intensiver Tag, nicht nur für dich.
    Ebenfalls hoffe ich, das meine immer etwas längeren comment´s nicht den Eindruck entstehen lassen, dass wir hier „gleichwertig “ schreiben…

    Es ist für mich DEIN Blog, der DEINE Gefühle ausdrückt… DEINE Liebe zu Johannes….

    Er ist wahrhaftig ein WERTVOLLER Blog, da viele , die ihn lesen… ich kenne einige, die das machen…sich in DEINEM Verhalten, DEINER Art zu trauern und zu leben, einfach wiederfinden….Das tröstet ungemein…auch mich…

    Alle diese Lieder hat mir meine Mutter vorgesungen, dann ich meinen Kindern… und dann meinen Enkeln, wie sie klein waren…
    Burkard habe ich im Arm gehalten und ihn gestreichelt, bis er eingeschlafen ist… mit seinen zwei Schmusetieren…während leise Entspannungsmusik lief…

    Ja, heute war auch für mich ein besonderer, sehr intensiv erlebter Tag…. Auch ich habe einige Ausschnitte aus den Reden gehört und wusste ja, dass ich um 14.00 Uhr im kommunalen Ruhewald zum Abschiednehmen einer Frau sein würde , die eine gute Bekannte war…
    Es war bewegend… und traurig … und schön zugleich… Emotional so sensibilisiert ging ich dann natürlich zu „unserem Baum“ und die Tränen liefen und liefen…

    Ich denke, wie bei dir, als du hörtest, dass auch Helmut Schmitt sich „der Mond ist aufgegangen“ sich gewünscht hat…
    einfach ALLES , eure Liebe, euer Kämpfen und dann in der allerletzten Zeit , das dann doch akzeptieren… dich innerlich einfach aus der gerade angefangen „Sammlung “ herauskatapultiert hat..

    Es werden immer Ereignisse passieren, die uns völlig unvorbereitet treffen, wo wir vollkommen ungeschützt “ dastehen“ und um das“ „innerliche Überleben“ kämpfen…Sprachlos… in einer für mich empfundenen „tiefen Demut“… sich den Gefühlen … und sogar der „Existenz“ hingebend…für eine Zeit, die lang und kurz zugleich ist…um dann..

    Lieber Erik,
    wir werden weiter leben… Meiner Meinung nach sogar intensiver,…sehr viel bewusster,… weil wir wissen, wie schnell sich das Leben , welches wir so häufig als selbstverständlich für uns gehalten haben ,ändern kann…

    Heute besonders mit-fühlend an dich geschrieben…
    Claudia mit Burkard im Herzen und Leben

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