Da bin ich wieder. Körperlich wohlauf, mental und finanziell aber ganz schön angeschlagen. Das ist auch der Grund, warum ich mich hier längere Zeit nicht gemeldet habe. Zu viele andere, profane Sorgen. Dabei ist gerade dieser Tage mein geliebter Johannes wieder allgegenwärtig. Nicht nur, weil sich mit dem 23. August sein Todestag nähert und damit auch die Vor-einem-Jahr-Erinnerungen besonders schmerzen. Sondern auch wegen Pokémon Go. Ja, genau dieser irre Hype, der gerade praktisch alle Unter-20-Jährigen gepackt hat und viele Ältere auch. Johannes hätte es geliebt! Pokémon-Fan war er ja sowieso – und begeisterter Geo-Cacher auch, also jemand, der kleine Schätze, die im Internet verzeichnet sind, draußen in der realen Welt aufspürt. Pokémon Go ist gewissermaßen die Verbindung aus beidem – und Johannes wäre, da bin ich mir sicher, als einer der ersten hier in Deutschland mit dem Smartphone in der Hand losgewackelt, unermüdlich und verngügt. Dieses Spiel hätte ihn wie keinen anderen angetrieben. Es macht mich jeden Tag traurig, dass er das nicht mehr erleben darf, dass ich ihm nicht davon erzählen kann.
„Pokémon Go“ könnte auch das Bild heißen, das ich ihm vor fast genau einem Jahr geschenkt habe. Ich hatte es hier schonmal gezeigt, aber nun ist es so viel aktueller. Das kleine Igamaru war zuletzt sein Lieblings-Pokémon. Ich habe es von einer sehr talentierten, slowakischen Zeichnerin (und Go-Spielerin) vor das Go-Brett setzen lassen. So süß und lustig das auch ist, so bitter und traurig die Worte, die ich dazu geschrieben habe. Dazu muss man wissen, dass „Leben“ und „Tod“ elementare Begriffe des Go-Spiels sind. „Auch Igamaru versteht das mit dem Leben und Tod irgendwie nicht…“ Darin steckte alle Verzweiflung und Fassungslosigkeit, die ich fühlte. Als ich ihm das Bild schenkte, hatte er nur noch drei Wochen zu leben – das hätte ich in diesem Moment aber nicht für möglich gehalten, auch wenn die Zukunft schwarz und bedrohlich wirkte. Johannes hatte da gerade sein Pflegebett bekommen, er litt fast täglich unter Schmerzen. Dazu ein halb gelähmtes Gesicht, ein empfindungsloser Unterleib, Inkontinenz, die schlimme Wunde am Gesäß und vor allem die Schwäche, die ihn jeden Tag mehr aufs Bett zwang. Seine Gebrechen hatten ihn so sehr in Beschlag genommen, dass er sich nur noch schwach über das Bild freuen konnte. Er ließ es mich gegenüber seines Pflegebettes in guter Sichthöhe anbringen. Aber selbst diese Prozedur, die wir sonst flachsend genossen hätten, weil wir uns etwas Schönes gönnen, hatte alle Leichtigkeit verloren, war nur noch Mühsal. Selbst dieses „Pokémon Go“ kam irgendwie zu spät, konnte ihn nicht mehr aufmuntern.
So oder so ähnlich kreisen meine Gedanken dieser Tage häufiger um Johannes. Dazu träume ich praktisch jede Nacht von ihm. Auch wenn er in den Träumen immer krank ist und wir beide voller Melancholie seinem Tod ins Auge blicken, sind es doch wunderschöne Momente. Mein Unterbewusstsein gibt mir da wohl genau das, was ich mir am dringendsten wünsche: diese intensive Nähe zu ihm, wir beide als eine Einheit. Er als meine – es lässt sich nicht treffender sagen – bessere Hälfte.
Sein Zimmer habe ich inzwischen fast vollständig leer geräumt. Dank der Hilfe eines Freundes und meiner Schwiegermutter. Mein Plan dafür steht nämlich fest: Ich will einen minderjährigen, unbegleiteten Flüchtling aufnehmen. Für diese Gruppe wurden hier in Wuppertal kürzlich Pflegefamilien gesucht. Wobei der Familienbegriff denkbar weit gefasst war, so weit, dass ich keine Bedenken hatte, mich für diese Aufgabe zu bewerben. Die Organisation, die das Projekt im Auftrag des Jugendamtes leitet, hat mich kürzlich schon besucht. Zwei Leute, zwei Stunden lang. Entsprechend ausführlich war ihr Bericht, den sie anschließend an das Jugendamt und mich geschickt haben. Darin empfahlen sie mich ausdrücklich als Betreuungsstelle. Morgen kommt deshalb das Jugendamt – es muss letztlich die Entscheidungen treffen – um sich auch nochmal bei mir umzusehen. Ich freue mich und bin gespannt! Sollte das alles klappen und ein passender Schützling gefunden werden – er oder sie muss schließlich gerne bei einem schwulen Witwer leben wollen – dann freue ich mich auch auf die neuen Aufgaben, die das mit sich bringt. Na klar, ich müsste so einige Freiheiten aufgeben, könnte nicht mehr mal eben so verreisen, nicht mal nachts einfach ausgehen, müsste womöglich pädagogische Schwerstarbeit leisten. Dafür halte ich die Aufgabe aber auch für höchst sinnvoll, sie passt sehr gut in mein derzeitiges Leben hinein – und entschädigt wird sie auch noch ordentlich, in etwa mit dem Gegenwert eines Halbtagsjobs.