Heute wäre Johannes 33 Jahre alt geworden. Wenn ihn diese beschissene Krankheit nicht aus dem Leben gerissen hätte. Das ist nun beinahe acht Monate her, doch wenn ich an einem besonderen Tag wie diesem wieder darauf schaue, dann macht es mich noch immer fassungslos. Manchmal will ich mich einfach nur wie ein trotziges Kind auf den Boden werfen und mit den Fäusten gegen dieses Schicksal trommeln. Es einfach nicht hinnehmen.
Nützt nur nichts. Also backe ich gerade einen Apfelkuchen. Das Rezept für Johannes, mit Vollkornmehl und Stevia, ganz ohne Zucker und schnell verwertbare Kohlenhydrate. Er hat sich jedes Mal so sehr darüber gefreut. Vor genau einem Jahr gab es den gleichen Kuchen. Wie wir den Tag verbracht haben, kann ich nicht mehr erinnern. Ganz schön und einfach, glaube ich, mit einem Besuch bei seinen Eltern. Mein Geburtstagsgeschenk bestand in einem Ausflug am darauf folgenden Wochenende. Ich habe ihm natürlich nicht verraten, was es genau werden würde, nur, dass er Kleidung für eine Nacht einpacken sollte.
Er war schon nicht mehr ganz so fit, längere Wege machten ihm zu schaffen. Wir schrieben das vor allem der Behandlung mit dem Chemo-Hammer CCNU zu, den er neuerdings nahm. Also habe ich ihm nicht so viel zugemutet: Wir sind am Samstag nach Köln zur Pferderennbahn gefahren. Er hatte schon lange davon gesprochen, mal so ein Rennen erleben zu wollen. Der milde, sonnige Nachmittag hat dann auch richtig Spaß gemacht. Die Volksfest-Atmosphäre, die rätselhaften Riten rund um die Pferde, die Wettbewerbe und die Wetten. Wir haben auch selbst ein paar Euro gesetzt. Natürlich iImmer auf die falschen Klepper.
Für die letzte Stunde dort fehlte ihm dann die Kraft. Wir sind also wieder ins Auto gestiegen und in die Eifel gefahren, zur Jugendherberge im idyllischen Nideggen. Er wusste noch nicht weshalb. Ein Spaziergang im stillen Wald, ein romantisches Abendessen in der historischen Altstadt – und am nächsten Morgen dann Schnuppersegeln auf dem nahen Rurtalsee. Noch so etwas, das wir einfach mal ausprobieren wollten. Es sollte eigentlich der Testlauf für Johannes sein, ob er sich segelnd auf dem Wasser wohlfühlt. Später war an eine Tour mit den Segelrebellen gedacht, ein wunderbares Projekt für junge Krebskranke. Als Ehemann hätte ich mitsegeln dürfen. Doch es sollte eben nicht mehr sein. Jeden Tag glaubten wir daran, dass die Talsohle endlich erreicht sein müsste, dass sich sein Zustand nun wieder bessern würde. Doch jeder Tag war der beste aller verbleibenden.
Anfang der Woche habe ich es geschafft, jene Tonschale abzuholen, die er in der Ergotherapie gefertigt hatte, immer mit seiner störrischen rechten Hand. Lange hatte ich mich darum gedrückt. Als ich die Stufen zu der Praxis hinaufstieg wurde mir auch klar, warum. Das war wieder so ein bittersüßer Ort der Geborgenheit und der Zuversicht. Hier hat er tapfer, unermüdlich und fröhlich an seiner Genesung gearbeitet. Mit seiner Therapeutin, die mich schon erwartete, konnte ich kaum sprechen. Sie hat natürlich den Kloß in meinem Hals und die feuchten Augen bemerkt und mir schnell die Schale in die Hand gedrückt. Das blasse, verbeulte Stück Erde habe ich wie einen Schatz nach Hause gefahren. Bald will ich es noch brennen lassen, damit es nicht mehr kaputt geht.
Ein weiterer Zufluchtsort hat sich heute per Post gemeldet. Da lag doch tatsächlich ein Brief für Johannes im Kasten. Das Hotel Bayrischer Hof gratuliert recht herzlich zum 33. Geburtstag. Dort, in Heidelberg, hat er etliche Nächte während seiner Bestrahlungen verbracht. Damals noch ganz selbstständig, in einer Stimmung zwischen Verzweiflung, Trotz und Hoffnung. „Wussten Sie übrigens“, fragt der Brief Johannes, „dass Sie schon 12050 Tage auf der Welt sind?“ Aua.
Auch geträumt habe ich wieder ein paar Mal von meinem geliebten Mann. Leider ist immer noch nicht eingetreten, was mir seine Psychologin angekündigt hat, dass nach etwa sechs Monaten der kranke Verstorbene die Träume verlässt, und den Erinnerungen an den Gesunden Platz macht. Bei mir ist Johannes immer gebrechlich, sind wir beide traurig, blicken wir seinem Ende entgegen. Neu ist nur, dass ich noch schlafend bemerke, dass es sich um einen Traum handelt. Das löst gleichwertig zwei sehr gegensätzliche Gefühle aus: Zum einen bin ich niedergeschlagen, weil er schon gegangen ist. Zum anderen erleichtert, dass wir das schlimmste Leid und das Sterben schon hinter uns haben.
Vorhin habe ich meine Schwiegermutter am Friedhof getroffen. Das war eine gute Idee von ihr. Wir haben das Grab mit Rosen und einer Kerze geschmückt, innegehalten, einen Kaffee getrunken, geweint und gelacht. Meine Schwiegereltern sind ein Hauptgrund, warum ich vorerst in dieser seltsamen, reizarmen Stadt bleiben möchte.