Month: Januar 2016

Training für den Trauermuskel

IMG_1971Drei Dinge wollte ich Anfang Oktober noch vor der Abreise nach Asien erledigen. Da wusste ich noch nicht, wie schwer jeder einzelne Punkt werden würde. Erst gestern konnte ich einen Haken hinter den ersten machen: Ich war in unserem Fitnessstudio. Der Vertrag dort ist längst gekündigt und läuft Ende Januar aus. Da wollte ich doch vorher nochmal reinschauen. Reinspüren, ob es wirklich so schlimm ist.

Und ja, es war grausam. Unseren alten Routinen folgend, bin ich zum Aufwärmen auf den Crosstrainer gestiegen, vor mir die Reihe der Laufbänder. Genau dort war Johannes immer, in seinen langen schwarz-glänzenden Trainingssachen, hat das Tempo eingestellt und ist dann leicht hinkend losgetrabt. Ich habe in seinem Rücken jede Sekunde mitgefiebert, denn motorisch verlangte ihm das Laufen Höchstleistung ab. Zwei Minuten 45, 50, 55… geschafft! Bei drei Minuten gab’s ein dickes Lob von mir. Dann sind wir in die Halle ausgeschwärmt, haben unsere Übungen gemacht, dazwischen immer mal ein Wort gewechselt. „Wie läuft’s?“ „Ganz gut.“ Jeden Mittwoch ist er für eine Stunde in den Keller gestiegen, der Tapfere, zum Qi Gong, meistens mit einer Handvoll älterer Frauen.

Es war ein magischer Ort. Ich war so glücklich und so stolz auf ihn, wenn er mal wieder zeigte, was er wie kein anderer beherrschte: Disziplin. Gutes für sich tun. Aus der Lage das Beste machen. Obwohl wir halbwegs diskret waren, fielen wir natürlich auf. Beobachtern war schnell klar, dass wir mehr Paar als Trainingspartner sind. Gestern fiel ich wohl auch dem einen oder anderen auf. Wow, der schwitzt ja aus den Augen! Zum Glück ist das Studio überwiegend von Normalos bevölkert, da war mir das nicht so peinlich. Testosteron-Geschädigte sind in der Minderheit.

Nach einer halben Stunde ging es langsam etwas besser und ich kam auf den Gedanken, dass es mit dem Trauern vielleicht wie mit den Muskeln ist: Es braucht etwas Training. Mit der Zeit kommt man besser mit den (inneren) Gewichten klar. Jedenfalls halte ich es jetzt auch schon etwas besser in Johannes Zimmer aus. Meine Bücher stehen dort, das zwingt mich täglich dazu hineinzugehen. Kritisch wird es nur, wenn ich zum Beispiel etwas suche und dazu ganz bewusst seine Dinge in die Hand nehmen muss. Wenn ich mit seinem Rechner nicht klarkomme und ihn nicht fragen kann, was er sich dabei gedacht hat. Wenn das Maß dann voll ist, brechen die Dämme.

Seine Pyschologin sagte mir, dass es etwa ein Jahr dauert, bis in den Träumen nicht mehr der kranke Partner auftaucht, sondern wieder der gesunde. Ich kann es kaum erwarten – und bin vielleicht schon auf dem besten Weg dorthin. Kürzlich habe ich geträumt, wie mein geliebter Mann gemeinsam mit mir irgendwelche Alltagsprobleme bewältigt. Ich weiß nicht mehr was es genau war, etwas komplizierter als Einkaufen und Kochen, aber eben nichts Weltbewegendes. Es war ein langer, wunderschöner Traum. Zu schön um wahr zu sein. Deshalb habe ich Johannes nach einiger Zeit beiseite genommen – es sollte ja nicht gleich jeder die ungeheure Frage hören, die ich ihm stellte: „Du bist nur ein Geist, stimmts?“ „Ja“, sagte er leise, und fiel mir schluchzend um den Hals. Ich wachte auf, weil ich keine Luft mehr bekam.

Ein kleines Stückchen loslassen

Heute fehlt mir Johannes mal wieder ganz praktisch: Zum ersten Mal habe ich ein Computerproblem, das 1. schwerwiegend und 2. mit meinem eher laienhaften Verständnis und viel googeln nicht zu lössen ist. Java läuft einfach nicht mehr auf meinem Rechner. Mit unangenehmen Folgen: Just in diesem Moment sitzt irgendwo da draußen in der Republik ein Go-Spieler und wartet online darauf,  dass ich zu einer lange einberaumten Turnierpartie erscheine. Geht nur leider nicht, weil ich das gängige Go-Portal ohne Java nicht betreten kann. Auch kontaktieren kann ich den armen, wahrscheinlich frustrierten Gegner nicht. Mein geliebter Mann hätte das sicher hingekriegt, wahrscheinlich in wenigen Minuten. Solche Situationen hatten uns zuletzt immer wieder glücklich gemacht, weil auch ich mal von ihm abhängig war. Und so dankbar für seine Hilfe. Und so stolz auf seine Fähigkeiten.  So aber bin ich mit meinem Latein am Ende. Gegen den Frust schreibe ich jetzt Blog.

IMG_5625Die Idee von Claudia, in Johannes Zimmer Reisende aufzunehmen, ist mir wenige Tage zuvor auch selbst gekommen. Sie gefällt mir wahrscheinlich deshalb so gut, weil dadurch zunächst auch Teile dieses Raums erhalten bleiben könnten. Der überdimensionale Schreibtisch muss weg, ganz klar. Vielleicht stelle ich dann aber statt eines Bettes auch ein paar zusätzliche Bücherregale auf. Seit wenigen Tagen verkaufe ich nämlich gebrauchte Bücher auf Amazon. Hintergrund ist der finanzielle Druck, den ich seit Wochen immer stärker spüre. Jeden Monat mache ich ein paar hundert Euro Miese – und in Kürze wird es noch viel schlimmer, wenn ich wieder ganz auf eigenen Beinen stehen muss. Da hat mich ein Freund in Köln doch neugierig gemacht, der mir schilderte, wie er quasi nebenbei mit dem Bücherverkauf ein nettes Zubrot verdient.

Also habe ich in den vergangenen Tagen mehr als ein Dutzend Bücherkisten durchforstet, mehr als 500 Bücher. Rund 150 davon stehen jetzt bei Amazon zum Verkauf – und jeden Tag trudeln Bestellungen ein! Das macht zwar nicht reich, hilft aber ein bisschen. Und macht Riesenspaß. Denn ich komme in eine Art Goldrausch, wenn ich mich so durch die Stapel wühle und jedes Buch auf seinen Wert hin prüfe. Barcode scannen, ISBN oder Stichworte eingeben – und pling, steht da, ob ich gerade einen potenziellen 10-Euro-Schein in der Hand halte oder eine 1-Cent-Niete.

Die Not hat mich seit Jahresanfang tatsächlich auf Trab gebracht. Das fühlt sich gar nicht mal so schlecht an, eher sehr lebendig. Ich bin gezwungen, mein Leben stärker zu strukturieren. Eines Abends, als ich müde ins Bett gefallen bin, ist mir plötzlich ein besonderer Satz durch den Kopf geschossen. „Das war doch ein ganz schöner Tag, oder?“ Mit dieser arglosen Frage haben Johannes und ich manchmal den Tag resümiert und uns gegenseitig daran erinnert, dass wir dankbar für alle unbeschwerten, gemeinsam Stunden sein sollten. Seine Antwort war meistens ein zufriedener Stoßseufzer: „Ooooh ja!“

Es hat sich noch mehr getan. Am Mittwoch war ich zum letzten Mal bei seiner Psychologin. Ja, richtig: bei seiner. Denn etwa im April, als diese elende Krankheit ihn immer fester in den Klauen hatte, wünschte er sich gelegentlichen professionellen Beistand. Die Düsseldorferin war eine Empfehlung, weil sie einfühlsam, pragmatisch und erfahren ist. Aber auch, weil sie selbst ihren Mann bis zum Krebstod hat begleiten müssen und inzwischen mit einem weiteren Mann zusammen lebt, der seine Frau durch einen Hirntumor verloren hat. Sie war ihm sofort sympathisch und er ihr wohl auch. Jedenfalls habe sie ihm gut geholfen, sagte er mir. Eine handvoll Sitzungen gab es, zu denen ich Johannes immer gefahren habe. Zuerst konnte er selbstständig die Stufen zur Praxis steigen, dann musste ich ihn stützen. Das letzte Treffen mussten wir absagen, weil er kaum noch transportabel war.  Dafür wollte die Psychologin dann zu uns nach Hause kommen. Doch die Ereignisse waren noch schneller. Letztlich sah sie Johannes ein letztes Mal im Krankenhaus, eine Woche vor seinem Tod.

Anschließend hatte ich selbst das Bedürfnis, sie zu sehen. Zum einen kennt sie sich mit Trauer gut aus. Zum anderen stellte sie so etwas wie eine Verbindung zwischen Johannes und mir dar. Vielleicht fünf Male war ich selbst dort. Beim ersten Mal kamen mir auf der Treppe die Tränen, weil ich zuletzt mit Johannes diesen Weg gegangen war, hinauf zu diesem wohligen Ort der Zuflucht. Und nun, vor wenigen Tagen, wusste ich plötzlich, dass es das letzte Treffen mit ihr sein sollte. Wir sprachen darüber, wie ich mich seit dem Todestag verändert habe, wo ich auf dem Trauerweg wohl stehe und wie die Aussichten sind. Das war alles gut, hatte aber nicht mehr den Charakter der seelischen Ersten Hilfe, so wie am Anfang. Es gibt tatsächlich eine Entwicklung, das ist jetzt klar. Ich bin ruhiger und stärker geworden. Deshalb war ich dann doch erstaunt, dass nach der Verabschiedung auf meinem Rückweg wieder die Tränen flossen.  Die Erklärung kam mir etwas später: Es lang an dieser speziellen Verbindung zu Johannes, die sie verkörperte – und die ich nun losgelassen hatte.

Mein zweites Coming-Out

imageUnsere Winkekatze lahmt. Wie ich heute nach der Maneki-neko geschaut habe, zuckte der linke Arm nur noch. Das hat mich einerseits traurig gemacht, weil sie ja seit dem Frühjahr nonstop gewunken hat, damals noch für Johannes. Andererseits entspricht es auch meiner eigenen Gefühlslage, die in den letzten Tagen doch merklich ruhiger geworden ist. Nachdem ich an Silvester nochmal tief in den Erinnerungen gewühlt habe, ging es mir etwas besser. Der Abend in Brno ist trotzdem – oder deswegen – nicht allzu lang geworden, nach ein paar Bier fand ich es in der einzigen, proppevollen Szenedisko einfach zu verqualmt und habe mich in mein Zimmer zurückgezogen.

Am nächsten Morgen ging es dann nochmal für zwei Nächte nach Dresden weiter, wo ich endlich ganz gepflegt den Touristen gegeben und mich einer Stadtführung angeschlossen habe. Leider zu Fuß, was sich angesichts langatmiger Geschichtsvorträge bei Eiseskälte als ungeschickt erwies. Gleichwohl war alles in Ordnung mit meiner kleinen Reise.

Was mir unterwegs wieder einmal auffiel: Sobald ich neuerdings Menschen kennenlerne, gibt es wieder so etwas wie ein Outing. Eine Information über mich, die gleichermaßen bedeutsam und überraschend für mein Gegenüber ist. Früher war das mein Schwulsein. Es hat mehrere Jahre und viel Übung gebraucht, bis ich diesen kleinen Unterschied in meinem Leben wirklich beiläufig rüberbringen konnte. Bis mein Selbstverständnis echt war und nicht gespielt. Manche Kollegen bei der Zeitung erfuhren erst nach zwei, drei Jahren der Zusammenarbeit davon, dass ich einen Mann habe. Aber eben nicht, weil ich es verheimlicht hätte, sondern weil es sich einfach nicht ergeben hatte – und es auch sonst niemand wichtig genug fand, um es hinter meinem Rücken zu verbreiten. Davor war es immer ein Eiertanz. Soll ich es sagen? Oder lieber das Thema meiden? Wann ist der richtige Zeitpunkt? Wie lasse ich es nicht allzu wichtig erscheinen?

So ähnlich geht es mir jetzt unfreiwillig wieder. Mehrfach gab es in den vergangenen Wochen jemanden, der nicht aus Deutschland stammte, der irgendwann den Ehering an meiner Hand entdeckte. Und dann lief es ungefähr so:
„Oh, bist Du verlobt?“
„Nein, in Deutschland trägt man den Ring rechts, wenn man verheiratet ist, überall sonst auf der Welt ist es andersrum.“
Großes Erstaunen bis Entsetzen. „Also bist Du verheiratet?“
„Hm… nein. Ich bin Witwer. Mein Mann ist kürzlich verstorben.“
Es folgt ein kurzer Schreckensmoment, danach oft ein kurioser Satz:
„Wir brauchen nicht darüber sprechen, wenn Du nicht magst.“ Eigentlich heißt das natürlich: Bitte lass uns nicht darüber sprechen, ich kann damit nicht umgehen. Weil ich das weiß, belasse ich es inzwischen meist dabei. Es wäre ja auch sinnlos, auf dieser Basis über Tod und Trauer zu sprechen, selbst wenn ich es wollte. Ich habe sogar schon erlebt, dass von meinem Gesprächspartner einfach gar keine Reaktion kam. Dann frage ich nach, ob er weiß, was „Widower“ bedeutet. Jaja, wisse er. Betretenes Schweigen. Na gut, dann weiß er es jetzt. Es ist ein besonders unbequemes Outing, weil es die andere Seite zwingt, irgendwie Stellung zu beziehen.

Zurück zu Hause, hat mich vor allem eines umgetrieben: Wovon ich in nächster Zeit leben soll. Noch ist es Krankengeld, mehr schlecht als recht. Doch das endet bald – und ein auskömmliches Einkommen ist nicht in Sicht. Viele Eisen habe ich ins Feuer gelegt, keines habe ich bisher so richtig zu schmieden geschafft. Besonders gravierend ist die Sorge, aus der viel zu großen, gemeinsamen Wohnung ausziehen zu müssen, weil sie mir zu teuer ist. Das kann und will ich momentan aber nicht. Sie tut mir schon nicht mehr ganz so weh, ist aber sehr wohl noch eine Möglichkeit, meinem geliebten Mann nahe zu sein. Vielleicht sollte ich der Maneki-neko den „Reichtum“-Aufkleber und eine neue Batterie verpassen? Ach,
Blödsinn. Gesundheit hat sie bisher ja auch nicht gebracht.

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