Drei Dinge wollte ich Anfang Oktober noch vor der Abreise nach Asien erledigen. Da wusste ich noch nicht, wie schwer jeder einzelne Punkt werden würde. Erst gestern konnte ich einen Haken hinter den ersten machen: Ich war in unserem Fitnessstudio. Der Vertrag dort ist längst gekündigt und läuft Ende Januar aus. Da wollte ich doch vorher nochmal reinschauen. Reinspüren, ob es wirklich so schlimm ist.
Und ja, es war grausam. Unseren alten Routinen folgend, bin ich zum Aufwärmen auf den Crosstrainer gestiegen, vor mir die Reihe der Laufbänder. Genau dort war Johannes immer, in seinen langen schwarz-glänzenden Trainingssachen, hat das Tempo eingestellt und ist dann leicht hinkend losgetrabt. Ich habe in seinem Rücken jede Sekunde mitgefiebert, denn motorisch verlangte ihm das Laufen Höchstleistung ab. Zwei Minuten 45, 50, 55… geschafft! Bei drei Minuten gab’s ein dickes Lob von mir. Dann sind wir in die Halle ausgeschwärmt, haben unsere Übungen gemacht, dazwischen immer mal ein Wort gewechselt. „Wie läuft’s?“ „Ganz gut.“ Jeden Mittwoch ist er für eine Stunde in den Keller gestiegen, der Tapfere, zum Qi Gong, meistens mit einer Handvoll älterer Frauen.
Es war ein magischer Ort. Ich war so glücklich und so stolz auf ihn, wenn er mal wieder zeigte, was er wie kein anderer beherrschte: Disziplin. Gutes für sich tun. Aus der Lage das Beste machen. Obwohl wir halbwegs diskret waren, fielen wir natürlich auf. Beobachtern war schnell klar, dass wir mehr Paar als Trainingspartner sind. Gestern fiel ich wohl auch dem einen oder anderen auf. Wow, der schwitzt ja aus den Augen! Zum Glück ist das Studio überwiegend von Normalos bevölkert, da war mir das nicht so peinlich. Testosteron-Geschädigte sind in der Minderheit.
Nach einer halben Stunde ging es langsam etwas besser und ich kam auf den Gedanken, dass es mit dem Trauern vielleicht wie mit den Muskeln ist: Es braucht etwas Training. Mit der Zeit kommt man besser mit den (inneren) Gewichten klar. Jedenfalls halte ich es jetzt auch schon etwas besser in Johannes Zimmer aus. Meine Bücher stehen dort, das zwingt mich täglich dazu hineinzugehen. Kritisch wird es nur, wenn ich zum Beispiel etwas suche und dazu ganz bewusst seine Dinge in die Hand nehmen muss. Wenn ich mit seinem Rechner nicht klarkomme und ihn nicht fragen kann, was er sich dabei gedacht hat. Wenn das Maß dann voll ist, brechen die Dämme.
Seine Pyschologin sagte mir, dass es etwa ein Jahr dauert, bis in den Träumen nicht mehr der kranke Partner auftaucht, sondern wieder der gesunde. Ich kann es kaum erwarten – und bin vielleicht schon auf dem besten Weg dorthin. Kürzlich habe ich geträumt, wie mein geliebter Mann gemeinsam mit mir irgendwelche Alltagsprobleme bewältigt. Ich weiß nicht mehr was es genau war, etwas komplizierter als Einkaufen und Kochen, aber eben nichts Weltbewegendes. Es war ein langer, wunderschöner Traum. Zu schön um wahr zu sein. Deshalb habe ich Johannes nach einiger Zeit beiseite genommen – es sollte ja nicht gleich jeder die ungeheure Frage hören, die ich ihm stellte: „Du bist nur ein Geist, stimmts?“ „Ja“, sagte er leise, und fiel mir schluchzend um den Hals. Ich wachte auf, weil ich keine Luft mehr bekam.