Ein Foto ohne Zusammenhang zum Text. Dieser Aushang hätte Johannes so herrlich amüsiert. Er hätte ihn bestimmt getwittert.
Zwei Wochen kein Eintrag mehr – da bin ich ja fast selbst beunruhigt. Woran es lag? Nun, eine Mischung aus neuer Geschäftigkeit und angeschlagener Gesundheit. Seit etwa zwei Wochen spitzt sich nämlich bei mir das zu, was ich lange als „ein bisschen schlecht Luft bekommen“ beschrieben habe. Eine Lungenärztin hatte mich neulich deshalb gründlich durchgecheckt und mir danach eine Gräserallergie und leichtes Asthma attestiert. Damit seien meine Symptome allerding nicht ganz zu erklären, schränkte sie ein. Wir haben uns dann darauf geeinigt, dass der Rest bestimmt psychosomatisch sei. „Welchen Tumor hatte ihr Mann denn genau?“, fragte sie noch. „Einen Hirntumor.“ Ich erwartete nicht, dass eine Lungenärztin mehr davon versteht. Von wegen. „Ein Glioblastom?“ „Ja, genau. “ „Verdammt. Ich habe das Gefühl, dass den immer mehr junge Menschen bekommen. Ich kenne mehrere Fälle.“ Vielleicht ist ja wirklich etwas dran, an den Strahlen- und Elektrosmog-Unkenrufen. Immerhin hat Johannes insgesamt bestimmt ein paar Jahre seines Lebens vor Computermonitoren verbracht, einen Teil davon vor so alten, dass im Dunkeln auf der Wand hinter ihm wahrscheinlich sein Skelett zu sehen war.
Nun habe ich es jedenfalls nicht nur mit der Lunge. Denn die tägliche Asthmatablette bewirkt rein gar nichts und die Beschwerden haben sogar noch zugenommen. Oft ist es eher ein Druck auf dem Brustkorb, manchmal spüre ich dazu mein Herz wummern. Das fühlt sich alles sehr bedrohlich an und hat mich zeitweise lahmgelegt. Ich muss der Sache auf den Grund gehen. Ein bisschen Blut habe ich schon beim Arzt gelassen (mir Schisser hat dabei ganz arg Johannes zum Händchenhalten gefehlt), übernächste Woche gehts dann zum Belastungs-EKG. Hoffentlich wird es bis dahin nicht noch schlimmer.
Soweit die Kräfte es zulassen, bin ich ansonsten sehr beschäftigt. Hauptsächlich damit, mich auf die Zeit nach dem Krankengeld vorzubereiten. Ab Mitte März will ich in Wiedereingliederung gehen. Ja, das gibt es auch für Selbstständige. Normalerweise zahlt der Arbeitgeber in der Übergangszeit, wenn die Wochenstunden nach und nach aufgestockt werden, ein anteiliges Gehalt, den Rest die Kasse. Ob ich aber selbst genug erwirtschaften werde, um den Krankengeldausfall zu kompensieren, muss sich noch zeigen. Derzeit bereite ich einen Flickenteppich aus kleineren Selbstständigkeiten vor, auf dem ich zumindest etwas weicher fallen dürfte. Mehr dazu, wenn es wirklich losgeht.
Zu den beruflichen Vorbereitungen kommen reichlich private Aufgaben hinzu. So bin ich zum Beispiel vergangene Woche endlich mal zur Rentenkasse gefahren. Als Witwer steht mir formal ja eine Witwerrente zu. Der Antrag dazu wiegt etwa ein Pfund und lag nicht nur wegen meiner Bürokratie-Allergie lange unbeachtet auf dem Schreibtisch. Hinzu kommt, dass mir wegen 1. meines recht jungen Lebensalters, 2. Johannes geringer AU-Rente, 3. meines halbwegs lebbaren Einkommens ohnehin keine erwähnenswerte Rente zusteht. Praktisch gar keine, sofern ich eigenes Geld verdiene. Noch schwerer wiegt aber, dass es mir zutiefst widerstrebt, durch den Tod meines geliebten Mannes einen finanziellen Vorteil zu erlangen. Außerdem musste ich mich wieder einmal mit den Eckpunkten unseres gemeinsamen Lebens befassen, als ich mich auf den Weg zur Rentenberatung machte.
Der Sachbearbeiter mit der Berliner Kotterschnauze, sagte gleich zu Anfang ganz lapidar, dass der Tod ja nun schon länger her sei und ich doch wieder voll im Leben angekommen sein sollte. Ich war schlagartig verletzt und empört. Irgendwann musste so ein Satz ja mal kommen. Ich hatte damit gerechnet, aber nicht ausgerechnet von einem, der jeden Tag mit Hinterbliebenen zu tun hat. Da versucht mir einer mein Recht auf Trauer abzusprechen! „Sie sollten doch eigentlich wissen, dass Trauer Zeit braucht…“ Sofort stand mir wieder das Wasser in den Augen. Er lenkte ein wenig ein und erzählte von sich selbst, dass er mit Mitte 40 der älteste in seiner Familie sei, alle anderen schon verstorben, alle an plötzlichem Organversagen, umgekippt, einfach tot, seine Mutter beim Kofferpacken vor dem Urlaub. Das bruhigte mich. Na gut, der Mann ist abgehärtet vom eigenen Schicksal. Insgesamt saß ich schließlich eine dreiviertel Stunde bei ihm, er füllte dutzende Seiten meiner Anträge aus und parlierte nebenbei über das Leben, das Sterben und die Rentengerechtigkeit.
Während ich dieser Tage so viel mit mir selbst beschäftigt bin, fällt mir manchmal auf, wie da und dort Spuren von Johannes verwischen. Mal klitzekleine, wenn ich das letzte Spülmaschinentab aus einer Packung nehme, die er noch eingekauft hatte, im Mai oder Juni, schon wackelig auf den Beinen, aber bis zuletzt tapfer unseren Alltag mitgestaltend. Oder wenn ich mal wieder an seine Mails gehe. Das mache ich möglichst selten, weil es kaum etwas Deprimierenderes gibt als das Postfach eines Toten. Der ganze Strom an Spam, Newslettern und Foren-Mitteilungen fließt unbekümmert weiter. Aber es gibt keine persönlichen, substanziellen Mails mehr. Nur noch das hässliche Grundrauschen in dem dauernd sein Name auftaucht, ohne dass er wirklich gemeint ist.
Vergangene Woche hatte ich meine erste Klavierstunde nach Jahren. Wieder Jazzklavier, wieder beim gleichen, tollen Musiker. Der Weg dorthin war hoch emotional. Voller Erinnerungen an eine Zeit, als es Johannes und mir noch prächtig ging – und ich bloß zu undiszipliniert war, um Fortschritte am Klavier zu machen. Damals, einige Zeit vor der Krankheit, hatte er mir ein Keyboard geschenkt, weil er sich so sehr wünschte, dass ich an meine zwölf Jahre klassischer Ausbildung anknüpfe. Dass er endlich mal etwas von mir zu hören bekommt. Das bekam er bis dahin nur höchst selten, weil ich mich immer geziert habe, mit meinen eingerosteten Fingern. Selbst als er krank war und das Keyboard schon einigen Staub eingefangen hatte, schenkte er mir nochmal ein dickes, richtig gutes Jazzklavier-Lehrbuch. Einfach so, als Impuls. Während ich also zu Robert Boden ging, dem Jazzmusiker und Klavierlehrer, war ich Johannes ganz nah.
Entsprechend wichtig ist mir nun das Üben. Doch ausgerechnet das ist momentan nicht möglich, weil ich das Keyboard nicht angeschlossen bekomme. Das gute Stück erzeugt nämlich selbst keinen Klang, sondern gibt nur Steuersignale an den Computer weiter. Und an dem hängt’s nun. Linux Mint, mein Betriebssystem, ist dabei auch echt kompliziert. Viele Stunden habe ich mich inzwischen durch Google, Linux-Foren und Fehlermeldungen gequält, wenig verstanden und vieles ausprobiert. Johannes hätte das sicher fix hinbekommen. Nun bin ich auf Mail-Support von Freunden angewiesen, was ungleich mühsamer ist. Für alle. Normalerweise hätte ich längst den Kram hingeschmissen und es eben sein gelassen mit dem Klavierspielen. Doch diesmal geht das nicht. Ich muss da durch. Das ist Herzenssache.