Viel Zeit ist vergangen. Reichlich ein halbes Jahr seit meinem letzten Beitrag hier, anderthalb Jahre seit Johannes gegangen ist. Zeit heilt ja alle Wunden, heißt es. Vielleicht stimmt das. Auf jeden Fall aber macht Zeit die Narben sichtbar. Und noch weiß ich nicht, wie lang und tief sie bei mir sind. Auf jeden Fall tut es immer noch weh. Unsere Wohnung ist voll von Plätzen, die ich seit Jahren nicht angerührt habe. Manchmal passiert es dann eher zufällig. Dann will ich den neuen Lautsprecher auf den Küchenschrank stellen, aber was liegt dort im Weg? Ein kleiner Stapel aus Bunt- und Filzstiftschachteln, mit einem Block voller Motive zum Ausmalen. Eingestaubte, stumme Zeugen von Johannes unermüdlichem Eifer, etwas für seine zittrige rechte Hand zu tun.
Der Medizinschrank im Bad ist noch immer vollgestopft, daneben steht sein Kulturbeutel. Sollte ich den etwa wegräumen? Nein, nein, nein. Noch nicht. Manchmal ist mein Verstand aber schon etwas schneller als mein Herz und sagt der Hand, sie soll doch mal eben fix die alten Bankkarten wegwerfen, oder die Keto-Sticks, mit denen Johannes seine strenge Diät überwacht hat. Dann sind sie fort und ich wende mich schnell wieder anderen Dingen zu, die weniger traurig machen. Denn die Erinnerung kostet Energie, und ehe ich mich versehe, verschwindet mal eben ein ganzer Tag im Schatten der Trauer.
Dabei habe ich gute Ablenkung. Seit Mitte November wohnt ein ganz lieber Mensch bei mir, sehr aufmerksam und rücksichtsvoll. Sehr mein Typ. Mit weiteren Schwärmereien halte ich mich hier lieber zurück – er lernt schließlich fleißig deutsch. Aber klar ist, dass er Johannes Platz nicht einnehmen kann. Muss er auch nicht, es findet sich ja vielleicht ein eigener für ihn. Gleichwohl fällt die Annäherung über einen gewissen Punkt hinaus nicht leicht. Das bin ich nicht mehr gewöhnt, nach zwölf Jahren mit meinem geliebten Mann. Ja, wir teilen uns das große Bett. Aber eines war von vornherein klar: Ich schlafe auf Johannes Seite. Das war mir wichtig. Niemand sonst darf seinen Platz einnehmen, sprichwörtlich.
Wenigstens an der Arbeits- und Einkommensfront entwickeln sich die Dinge klar und erfreulich nach vorne. Mein kleiner Naturprodukte-Online-Bauchladen macht sich gut und ernährt mich mittlerweile. Zum Durchatmen ist dennoch keine Zeit, dafür ist das Geschäft zu wechselhaft und vergänglich.
Apropos Vergänglichkeit: Die beschäftigt mich immer wieder in den vergangenen Monaten. Nun bin ich 40, habe immer mehr Zipperlein und bin vielleicht reif für die Midlife-Crisis. Dass mein Vater im Oktober verstorben ist, hat mich nur noch mehr auf das Thema geworfen. Am meisten aber ist es noch immer der eine, große Schicksalsschlag, der da nachwirkt.
Gerade gestern habe ich Dieter Nuhr gesehen, der in seinen Betrachtungen zu Donald Trump etwas weiter ausholt und über das dringende Bedürfnis mancher Menschen spricht, irgendetwas Großes vollbringen zu wollen. Dabei – und diesen Gedanken finde ich stark – sind wir eben alle ziemlich klein, werden geboren, atmen, essen, zeugen Nachwuchs und treten wieder ab. Fertig. Die Kunst des Lebens, so sagt Nuhr, bestünde genau darin, diese Kleinheit mit Anstand zu ertragen. Und ich füge mal hinzu: hoffentlich auch mit Genuss.