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Dieser Platz ist reserviert, lebenslang

Viel Zeit ist vergangen. Reichlich ein halbes Jahr seit meinem letzten Beitrag hier, anderthalb Jahre seit Johannes gegangen ist. Zeit heilt ja alle Wunden, heißt es. Vielleicht stimmt das. Auf jeden Fall aber macht Zeit die Narben sichtbar. Und noch weiß ich nicht, wie lang und tief sie bei mir sind. Auf jeden Fall tut es immer noch weh. Unsere Wohnung ist voll von Plätzen, die ich seit Jahren nicht angerührt habe. Manchmal passiert es dann eher zufällig. Dann will ich den neuen Lautsprecher auf den Küchenschrank stellen, aber was liegt dort im Weg? Ein kleiner Stapel aus Bunt- und Filzstiftschachteln, mit einem Block voller Motive zum Ausmalen. Eingestaubte, stumme Zeugen von Johannes unermüdlichem Eifer, etwas für seine zittrige rechte Hand zu tun.

Der Medizinschrank im Bad ist noch immer vollgestopft, daneben steht sein Kulturbeutel. Sollte ich den etwa wegräumen? Nein, nein, nein. Noch nicht. Manchmal ist mein Verstand aber schon etwas schneller als mein Herz und sagt der Hand, sie soll doch mal eben fix die alten Bankkarten wegwerfen, oder die Keto-Sticks, mit denen Johannes seine strenge Diät überwacht hat. Dann sind sie fort und ich wende mich schnell wieder anderen Dingen zu, die weniger traurig machen. Denn die Erinnerung kostet Energie, und ehe ich mich versehe, verschwindet mal eben ein ganzer Tag im Schatten der Trauer.

Dabei habe ich gute Ablenkung. Seit Mitte November wohnt ein ganz lieber Mensch bei mir, sehr aufmerksam und rücksichtsvoll. Sehr mein Typ. Mit weiteren Schwärmereien halte ich mich hier lieber zurück – er lernt schließlich fleißig deutsch. Aber klar ist, dass er Johannes Platz nicht einnehmen kann. Muss er auch nicht, es findet sich ja vielleicht ein eigener für ihn. Gleichwohl fällt die Annäherung über einen gewissen Punkt hinaus nicht leicht. Das bin ich nicht mehr gewöhnt, nach zwölf Jahren mit meinem geliebten Mann. Ja, wir teilen uns das große Bett. Aber eines war von vornherein klar: Ich schlafe auf Johannes Seite. Das war mir wichtig. Niemand sonst darf seinen Platz einnehmen, sprichwörtlich.

Wenigstens an der Arbeits- und Einkommensfront entwickeln sich die Dinge klar und erfreulich nach vorne. Mein kleiner Naturprodukte-Online-Bauchladen macht sich gut und ernährt mich mittlerweile. Zum Durchatmen ist dennoch keine Zeit, dafür ist das Geschäft zu wechselhaft und vergänglich.

Apropos Vergänglichkeit: Die beschäftigt mich immer wieder in den vergangenen Monaten. Nun bin ich 40, habe immer mehr Zipperlein und bin vielleicht reif für die Midlife-Crisis. Dass mein Vater im Oktober verstorben ist, hat mich nur noch mehr auf das Thema geworfen. Am meisten aber ist es noch immer der eine, große Schicksalsschlag, der da nachwirkt.

Gerade gestern habe ich Dieter Nuhr gesehen, der in seinen Betrachtungen zu Donald Trump etwas weiter ausholt und über das dringende Bedürfnis mancher Menschen spricht, irgendetwas Großes vollbringen zu wollen. Dabei – und diesen Gedanken finde ich stark – sind wir eben alle ziemlich klein, werden geboren, atmen, essen, zeugen Nachwuchs und treten wieder ab. Fertig. Die Kunst des Lebens, so sagt Nuhr, bestünde genau darin, diese Kleinheit mit Anstand zu ertragen. Und ich füge mal hinzu: hoffentlich auch mit Genuss.

Ein Jahr danach, ein Fuß vor den andern

„Wenn der Sinn von allem sich nicht zeigt
sich tarnt bis zur Unkenntlichkeit
wenn etwas hilft mit Sicherheit, dann Zeit.
Es geht vorbei, es geht vorbei.

Hey! Sei nicht so hart zu dir selbst
Auch wenn dich gar nichts mehr hält
Du brauchst nur weiter zu gehn
Komm nicht auf Scherben zum stehn.“
(Andreas Bourani, „Hey!“)

Wird Zeit, dass ich diese Zeilen mal poste. Schon seit Monaten berühren sie mich jedesmal wenn ich sie im Radio höre. Ich brauch nur weiter zu gehn, irgendwie.

Und plötzlich ist es ein Jahr her, dass Johannes, mein geliebter Mann, für immer gegangen ist. Und es tut anders weh als noch gestern. Wahrscheinlich auch anders als morgen. Wobei der Wandel eigenartig ist, nicht linear, niemand dreht einfach den Trauer-Hahn zu, das Gefühl verblasst nicht, es ändert eher seine Farbe. Ab und zu denke ich: Ach, so ist das also, JETZT trauere ich erst. Aber das dachte ich schon häufiger, fast von Anfang an, eine Woche danach, einen Monat später, ein halbes Jahr darauf. Und so wie es mir andere berichteten, die den Weg schon hinter sich haben, wird das wohl auch noch so weiter gehen.

Klar, heute war ich an Johannes Grab. Und natürlich war ich sehr traurig. Aber das bin ich dort immer. Und überall, sobald ich die Erinnerung zulasse. Also ist dieser Jahrestag eine deutlich schwächere Zäsur als ich erwartet hatte. Dennoch bin ich allen jenen dankbar, die heute an Johannes und mich gedacht haben. Danke für alles Mitgefühl! Nicht ein einziges Mal kam es in Begleitung von Ratschlägen oder Ermahnungen daher, doch wieder in die Spur zu kommen.

johannes-auf-palma

Johannes auf Gran Canaria, Februar 2015: Er imitiert gerade Asiaten, die immer so komische Posen vor der Kamera machen. Süßer Kasper. Ignoriert einfach, dass er auf Rechts eigentlich gar nicht stehen kann.

Wäre auch nicht nötig. Im Grunde habe ich ja ein sonniges Gemüt. Lange war das recht konstant eingetrübt, vielleicht wird es auch nie wieder so unbekümmert wie es mal war. Aber vor ein paar Tagen fiel mir plötzlich auf, wie fröhlich ich auf einmal bin. Habe irgendwas gepfiffen und bin ziemlich albern durch die Wohnung gehüpft. Einfach so.  Nicht lange – aber wenigstens ohne schlechtes Gewissen. Johannes hätte sich bestimmt darüber gefreut.

Pokémon Go und neue Aufgaben

Da bin ich wieder. Körperlich wohlauf, mental und finanziell aber ganz schön angeschlagen. Das ist auch der Grund, warum ich mich hier längere Zeit nicht gemeldet habe. Zu viele andere, profane Sorgen. Dabei ist gerade dieser Tage mein geliebter Johannes wieder allgegenwärtig. Nicht nur, weil sich mit dem 23. August sein Todestag nähert und damit auch die Vor-einem-Jahr-Erinnerungen besonders schmerzen.  Sondern auch wegen Pokémon Go. Ja, genau dieser irre Hype, der gerade praktisch alle Unter-20-Jährigen gepackt hat und viele Ältere auch. Johannes hätte es geliebt! Pokémon-Fan war er ja sowieso – und begeisterter Geo-Cacher auch, also jemand, der kleine Schätze, die im Internet verzeichnet sind, draußen in der realen Welt aufspürt. Pokémon Go ist gewissermaßen die Verbindung aus beidem – und Johannes wäre, da bin ich mir sicher, als einer der ersten hier in Deutschland mit dem Smartphone in der Hand losgewackelt, unermüdlich und verngügt. Dieses Spiel hätte ihn wie keinen anderen angetrieben. Es macht mich jeden Tag traurig, dass er das nicht mehr erleben darf, dass ich ihm nicht davon erzählen kann.

IMG_1483„Pokémon Go“ könnte auch das Bild heißen, das ich ihm vor fast genau einem Jahr geschenkt habe. Ich hatte es hier schonmal gezeigt, aber nun ist es so viel aktueller.  Das kleine Igamaru war zuletzt sein Lieblings-Pokémon. Ich habe es von einer sehr talentierten, slowakischen Zeichnerin (und Go-Spielerin) vor das Go-Brett setzen lassen. So süß und lustig das auch ist, so bitter und traurig die Worte, die ich dazu geschrieben habe. Dazu muss man wissen, dass „Leben“ und „Tod“ elementare Begriffe des Go-Spiels sind. „Auch Igamaru versteht das mit dem Leben und Tod  irgendwie nicht…“ Darin steckte alle Verzweiflung und Fassungslosigkeit, die ich fühlte. Als ich ihm das Bild schenkte, hatte er nur noch drei Wochen zu leben – das hätte ich in diesem Moment aber nicht für möglich gehalten, auch wenn die Zukunft schwarz und bedrohlich wirkte. Johannes hatte da gerade sein Pflegebett bekommen, er litt fast täglich unter Schmerzen. Dazu ein halb gelähmtes Gesicht, ein empfindungsloser Unterleib, Inkontinenz, die schlimme Wunde am Gesäß und vor allem die Schwäche, die ihn jeden Tag mehr aufs Bett zwang.  Seine Gebrechen hatten ihn so sehr in Beschlag genommen, dass er sich nur noch schwach über das Bild freuen konnte. Er ließ es mich gegenüber seines Pflegebettes in guter Sichthöhe anbringen.  Aber selbst diese Prozedur, die wir sonst flachsend genossen hätten, weil wir uns etwas Schönes gönnen, hatte alle Leichtigkeit verloren, war nur noch Mühsal. Selbst dieses „Pokémon Go“ kam irgendwie zu spät, konnte ihn nicht  mehr aufmuntern.

So oder so ähnlich kreisen meine Gedanken dieser Tage häufiger um Johannes. Dazu träume ich praktisch jede Nacht von ihm. Auch wenn er in den Träumen immer krank ist und wir beide voller Melancholie seinem Tod ins Auge blicken, sind es doch wunderschöne Momente. Mein Unterbewusstsein gibt mir da wohl genau das, was ich mir am dringendsten wünsche: diese intensive Nähe zu ihm, wir beide als eine Einheit. Er als meine – es lässt sich nicht treffender sagen – bessere Hälfte.

Sein Zimmer habe ich inzwischen fast vollständig leer geräumt. Dank der Hilfe eines Freundes und meiner Schwiegermutter. Mein Plan dafür steht nämlich fest: Ich will einen minderjährigen, unbegleiteten Flüchtling aufnehmen. Für diese Gruppe wurden hier in Wuppertal kürzlich Pflegefamilien gesucht. Wobei der Familienbegriff denkbar weit gefasst war, so weit, dass ich keine Bedenken hatte, mich für diese Aufgabe zu bewerben. Die Organisation, die das Projekt im Auftrag des Jugendamtes leitet, hat mich kürzlich schon besucht. Zwei Leute, zwei Stunden lang. Entsprechend ausführlich war ihr Bericht, den sie anschließend an das Jugendamt und mich geschickt haben. Darin empfahlen sie mich ausdrücklich als Betreuungsstelle. Morgen kommt deshalb das Jugendamt – es muss letztlich die Entscheidungen treffen – um sich auch nochmal bei mir umzusehen. Ich freue mich und bin gespannt! Sollte das alles klappen und ein passender Schützling gefunden werden – er oder sie muss schließlich gerne bei einem schwulen Witwer leben wollen – dann freue ich mich auch auf die neuen Aufgaben, die das mit sich bringt. Na klar, ich müsste so einige Freiheiten aufgeben, könnte nicht mehr mal eben so verreisen, nicht mal nachts einfach ausgehen, müsste womöglich pädagogische Schwerstarbeit leisten. Dafür halte ich die Aufgabe aber auch für höchst sinnvoll, sie  passt sehr gut in mein derzeitiges Leben hinein – und entschädigt wird sie auch noch ordentlich, in etwa mit dem Gegenwert eines Halbtagsjobs.

Gestern, heute, morgen vor einem Jahr

Lange nichts gehört von mir, was? Aber nichts dabei gedacht, weil die letzte Botschaft ja beinahe eine Jubel-Nachricht war? Weil mein „Leben danach“  ja jetzt schon neun Monate dauert? Sich langsam alles einrenkt? Von wegen! Ich habe es in den vergangenen Wochen schlicht nicht geschafft, von mir zu schreiben. Wie ich überhaupt nur wenig geschafft habe. Niedergeschlagen und kraftlos lief ich im Notbetrieb. Essen, Schlafen, Ablenken. Schwer zu sagen, ob das alles die Trauer allein war. Aber sie hatte definitiv ihren Anteil. Denn merkwürdigerweise drückt sie seit etwa vier Wochen wieder schwerer, denke ich wieder mehr an Johannes, meinen geliebten Mann.

Steinmetz-IchAnlässe gibt es genug.  Besonders eingeschlagen hat mein Vorstoß, sein Zimmer endlich aus- und umzuräumen. Dazu hatte ich mir die Hilfe von Johannes bestem Freund erbeten,  der mit ihm das Hobby der Computerei geteilt hat, vor allem rund um den Schneider CPC. Er kam also für ein Wochenende aus dem Schwäbischen herbei, hat einen Großteil von Johannes Sammlung eingepackt und dabei kräftig geholfen, klar Schiff in seinem Zimmer zu machen. Und auch wenn das meiste gar nicht durch meine Hände ging, hat mich die Aktion doch ziemlich angegriffen.  Das habe ich aber erst Tage später so richtig gemerkt.  Drei Wochen später habe ich dann mit meiner Schwiegerma auch noch den ausladenden Schreibtisch von Johannes auseinander gebaut. Noch so ein Ding. Das sind alles nur kleine Schritte, aber es  ist der Anfang vom Auszug. Ihn ausziehen zu lassen, bedeutet ja, seinen Tod zu akzeptieren. Aber da laufen Kopf und Gefühl mal wieder weit auseinander. So steht sein Kulturbeutel noch im Bad, die T-Shirts liegen im Schrank bereit – als könnte er jederzeit zurückkommen. Da kann ich immer noch nicht ran.

Meine Schwiegerma trauert auch wieder mehr, sagte sie mir. Eine Erklärung ist wohl, dass unsere Erinnerungen oft genau ein Jahr zurückgehen. Und vor einem Jahr wurde die Lage so richtig bedrohlich und bedrückend. Da schwanden langsam die Kraft und die Hoffnung. Da kamen jeden Tag neue Symptome hinzu. Eine der Metastasen im Rückenmark hatte offenbar Nerven im Steiß so eingeklemmt, dass Empfindung und Kontrolle ausfielen. Irgendwann Stuhlinkontinenz. Das ist so unfassbar fies, erst recht für einen 32-Jährigen. Windeln kosten Würde und Mobilität, ans Schwimmengehen war nicht mehr zu denken. Weil sein Rückenmark an zwei Stellen durch die Metastasen zum Seidenen Faden gequetscht war, lag er nachts ängstlich und reglos auf dem Rücken. Als Folge tat sich eine eine klaffende Lagerungswunde auf, ebenfalls am Steiß. Eine Katastrophe. Das viele Kortison hatte ihn zerschunden, die Haut entzündete sich leicht, so auch das Nagelbett am Mittelfinger, der ganz bandagiert wurde. Das sah lustig aus und Johannes versuchte etwas gequält darüber zu lachen. Der Süße, Tapfere.

Warum ich seit zwei, drei Tagen wieder etwas in Schwung komme, weiß ich nicht. Bin aber heilfroh darüber. So ging es einfach nicht weiter, ich hatte schon erste Schritte unternommen um mir eventuell ein Antidepressivum verschreiben zu lassen.  Vorgestern hat mich dann eine Hiobsbotschaft auf Trab gebracht. Mein Krankengeld, das ich – zwar auslaufend – aber noch bis September eingeplant hatte, kam nicht an. Auf Nachfrage bei der Krankenkasse erfuhr ich dann, dass auch keines mehr zu erwarten ist. Da war ich einer falschen Information aufgesessen – und muss mich nun plötzlich und früher als erwartet ohne jede Hilfe über Wasser halten. Erst ein Schock. Jetzt ein elender Druck. Lässt sich aber nicht ändern, also muss ich einen Fuß vor den andern setzen.

Steinmetz-ICHHeute habe ich dann zum ersten Mal an Johannes Grabstein gearbeitet. Zum fünften Mal war ich bei dem Steinmetz unseres Vertrauens. Ein toller Typ, Künstler und Handwerker zugleich, warm und wohlwollend. Aus dem dicken Brocken, den wir uns ausgeguckt haben, haben wir eine geschwungene, fast schon grazile Form herausgeschält. Natürlich hat er das meiste dafür getan, aber ich durfte mitentscheiden und mich mit einer brachialen Handbohrmaschine einsauen. In die Löcher kamen Keile, mit denen größere Teile abgeschlagen werden konnten. Auf drei bis vier volle Tage harter Plackerei hat mich der Steinmetz vorbereitet. Doch ich freue mich geradezu darauf. Es tut gut, Johannes ein Denkmal setzen zu dürfen.

 

 

Er ist wieder da!

Vergnügter, gesunder Johannes, irgendwo in der Karibik, wenige Monate bevor der Wahnsinn losging.

Vergnügter Johannes irgendwo in der Karibik, wenige Monate bevor der Wahnsinn losging.

Seit 4.30 Uhr heute morgen kann ich nicht mehr schlafen. Aufgeschreckt und aufgewühlt hat mich die Begegnung mit meinem lieben Mann, wieder einmal im Traum. Diesmal ist es aber passiert: Er war wieder der alte, gesunde Johannes! Aber der Reihe nach:  Es ist schon etwa zwei Wochen her, dass ich die letzten Male von ihm geträumt habe. Es waren bittere, traurige Bilder, deprimierender als je zuvor. In einer Nacht war der kranke, gebrechliche Johannes, dem ich doch so gerne nahe sein wollte, für mich nicht mehr erreichbar, schaute mich nicht an, nahm keine Verbindung mehr zu mir auf. Einen Traum später wurde es noch schlimmer, da machte er sogar mit mir Schluss, wollte lieber auf meine Liebe und Hilfe verzichten als weiter mit mir zu leben, warf mir böse, verletzende Worte an den Kopf, war gemein und unfair, ganz anders als ich ihn kannte. Die Traurigkeit darüber hielt bei mir auch noch tagsüber an. Ich fühlte mich tatsächlich so, als hätte Johannes mich verlassen.

In einem letzten Traum tauchte er selbst gar nicht mehr auf, es war nur klar, dass er sich in den letzten, verzweifelten Wochen seines  Lebens befand, mal wieder im Krankenhaus lag und dringend eine Operation brauchte. Doch der Gesundheitsapparat kam seit Tagen nicht in Gang und ich schickte mich an,  mal wieder vom Telefon aus den Kampf für meinen Mann aufzunehmen. Der gesamte Druck und die Hilflosigkeit jener Zeit kamen da wieder hoch.  Es war ein Alptraum, aus dem ich mit Herzrasen aufwachte. Nie war ich erleichterter, dass wir dieses Kapitel hinter uns haben.

Und nun das: Wie mit einer Zeitmaschine hat es mich vergangene Nacht zurückversetzt. Plötzlich bin ich mitten im Alltag mit Johannes, er macht sich gerade bereit das Haus zu verlassen, schwirrt munter zwischen Kleiderschrank und Bad hin und her. Ich allerdings merke, dass ich im falschen Erik, in der falschen Zeit stecke. Ich weiß, dass dieser Moment der vielleicht letzte sein wird, in dem ich ihn gesund sehe, bevor das Schicksal zuschlägt. Überwältigt von Freude und Schmerz schnappe ich ihn mir, wir küssen uns heftig. So heftig, dass mir die Tränen in den Augen stehen und er lachen muss, weil er meine unerwartete Leidenschaft nicht versteht. Gefühlsausbrüche konnten ihn schon immer leicht verunsichern. Mich auch, deshalb haben wir uns gegenseitig meist davon verschont. Diesmal kann ich ihm das aber nicht ersparen. Womöglich die letzte Gelegenheit, ein letzter Kuss, keine Zeit für Scheu. Dann wache ich auf – und bin dankbar.

Auch sonst  ist manches passiert in den vergangenen Wochen. Das soll aber seinen eigenen Beitrag haben.

12050 Tage Johannes

imageHeute wäre Johannes 33 Jahre alt geworden. Wenn ihn diese beschissene Krankheit nicht aus dem Leben gerissen hätte. Das ist nun beinahe acht Monate her, doch wenn ich an einem besonderen Tag wie diesem wieder darauf schaue, dann macht es mich noch immer fassungslos. Manchmal will ich mich einfach nur wie ein trotziges Kind auf den Boden werfen und mit den Fäusten gegen dieses Schicksal trommeln. Es einfach nicht hinnehmen.

Nützt nur nichts. Also backe ich gerade einen Apfelkuchen. Das Rezept für Johannes, mit Vollkornmehl und Stevia, ganz ohne Zucker und schnell verwertbare Kohlenhydrate. Er hat sich jedes Mal so sehr darüber gefreut. Vor genau einem Jahr gab es den gleichen Kuchen. Wie wir den Tag verbracht haben, kann ich nicht mehr erinnern. Ganz schön und einfach, glaube ich, mit einem Besuch bei seinen Eltern. Mein Geburtstagsgeschenk bestand in einem Ausflug am darauf folgenden Wochenende. Ich habe ihm natürlich nicht verraten, was es genau werden würde, nur, dass er Kleidung für eine Nacht einpacken sollte.

Schlimme Kamera, schöner Moment: mit Johannes zum Geburtstagsausflug an der Pferderennbahn.

Schlimme Kamera, schöner Moment: mit Johannes zum Geburtstagsausflug an der Pferderennbahn – und beim Schnuppersegeln.

Er war schon nicht mehr ganz so fit, längere Wege machten ihm zu schaffen. Wir schrieben das vor allem der Behandlung mit dem Chemo-Hammer CCNU zu, den er neuerdings nahm. Also habe ich ihm nicht so viel zugemutet: Wir sind am Samstag nach Köln zur Pferderennbahn gefahren. Er hatte schon lange davon gesprochen, mal so ein Rennen erleben zu wollen. Der milde, sonnige Nachmittag hat dann auch richtig Spaß gemacht. Die Volksfest-Atmosphäre, die rätselhaften Riten rund um die Pferde, die Wettbewerbe und die Wetten. Wir haben auch selbst ein paar Euro gesetzt. Natürlich iImmer auf die falschen Klepper.

IMG_1209Für die letzte Stunde dort fehlte ihm dann die Kraft. Wir sind also wieder ins Auto gestiegen und in die Eifel gefahren, zur Jugendherberge im idyllischen Nideggen. Er wusste noch nicht weshalb. Ein Spaziergang im stillen Wald, ein romantisches Abendessen in der historischen Altstadt – und am nächsten Morgen dann Schnuppersegeln auf dem nahen Rurtalsee. Noch so etwas, das wir einfach mal ausprobieren wollten. Es sollte eigentlich der Testlauf für Johannes sein, ob er sich segelnd auf dem Wasser wohlfühlt. Später war an eine Tour mit den Segelrebellen gedacht, ein wunderbares Projekt für junge Krebskranke. Als Ehemann hätte ich mitsegeln dürfen. Doch es sollte eben nicht mehr sein. Jeden Tag glaubten wir daran, dass die Talsohle endlich erreicht sein müsste, dass sich sein Zustand nun wieder bessern würde. Doch jeder Tag war der beste aller verbleibenden.

imageAnfang der Woche habe ich es geschafft, jene Tonschale abzuholen, die er in der Ergotherapie gefertigt hatte, immer mit seiner störrischen rechten Hand. Lange hatte ich mich darum gedrückt. Als ich die Stufen zu der Praxis hinaufstieg wurde mir auch klar, warum. Das war wieder so ein bittersüßer Ort der Geborgenheit und der Zuversicht. Hier hat er tapfer, unermüdlich und fröhlich an seiner Genesung gearbeitet. Mit seiner Therapeutin, die mich schon erwartete, konnte ich kaum sprechen. Sie hat natürlich den Kloß in meinem Hals und die feuchten Augen bemerkt und mir schnell die Schale in die Hand gedrückt. Das blasse, verbeulte Stück Erde habe ich wie einen Schatz nach Hause gefahren. Bald will ich es noch brennen lassen, damit es nicht mehr kaputt geht.

Ein weiterer Zufluchtsort hat sich heute per Post gemeldet. Da lag doch tatsächlich ein Brief für Johannes im Kasten. Das Hotel Bayrischer Hof gratuliert recht herzlich zum 33. Geburtstag. Dort, in Heidelberg, hat er etliche Nächte während seiner Bestrahlungen verbracht. Damals noch ganz selbstständig, in einer Stimmung zwischen Verzweiflung, Trotz und Hoffnung. „Wussten Sie übrigens“, fragt der Brief Johannes, „dass Sie schon 12050 Tage auf der Welt sind?“ Aua.

Auch geträumt habe ich wieder ein paar Mal von meinem geliebten Mann. Leider ist immer noch nicht eingetreten, was mir seine Psychologin angekündigt hat, dass nach etwa sechs Monaten der kranke Verstorbene die Träume verlässt, und den Erinnerungen an den Gesunden Platz macht. Bei mir ist Johannes immer gebrechlich, sind wir beide traurig, blicken wir seinem Ende entgegen. Neu ist nur, dass ich noch schlafend bemerke, dass es sich um einen Traum handelt. Das löst gleichwertig zwei sehr gegensätzliche Gefühle aus: Zum einen bin ich niedergeschlagen, weil er schon gegangen ist. Zum anderen erleichtert, dass wir das schlimmste Leid und das Sterben schon hinter uns haben.

Vorhin habe ich meine Schwiegermutter am Friedhof getroffen. Das war eine gute Idee von ihr. Wir haben das Grab mit Rosen und einer Kerze geschmückt, innegehalten, einen Kaffee getrunken, geweint und gelacht. Meine Schwiegereltern sind ein Hauptgrund, warum ich vorerst in dieser seltsamen, reizarmen Stadt bleiben möchte.

Plötzlich schaue ich dem Tod ins Auge

Blick aus dem Gate auf die Jet Airways-Maschinen. Ich werde nie wieder eine davon betreten.

Blick aus dem Gate auf die Jet Airways-Maschinen. Ich werde nie wieder eine davon betreten.

Alle Erfahrungen sind gut, selbst die schlechten – diesen Satz mag ich gern. Mit ihm in der Hand habe ich mich schon in manches Abenteuer gestürzt. Doch so absolut gilt er dann doch nicht. Erst jetzt habe ich wieder eine Ausnahme erlebt, eine Begebenheit, auf die ich auch im Rückblick lieber verzichtet hätte. Auf dem Heimweg aus Bangkok ist mein Flieger nämlich beinahe abgestürzt.

Es war kurz nach dem Start von meinem Zwischenstopp in Mumbai. In dem proppevollen Airbus 330 habe ich wieder einen jämmerlichen Platz in dem Mittelblock am Gang erwischt, direkt unter der Klimaanlage, die mich schon auf dem Hinflug so fertig gemacht hat. Wir sind schon auf rund 8000 Meter gestiegen, als der Pilot plötzlich auf die Bremse tritt, so heftig wie ich es noch nie erlebt habe. Wir fallen wie ein Stein aus dem Himmel! Nase nach unten, zig Meter pro Sekunde, hart an der Belastungsgrenze für Mensch und Maschine. Gleichzeitig mit dem Sturzflug dreht das Flugzeug in eine enge Kurve und nimmt wieder Kurs auf die Küste. Das Schlimmste ist: Keine Ansage erklärt uns, was da gerade passiert. Die Passagiere, überwiegend Inder, sind zu drei Vierteln schon eingeschlafen und bekommen den Wahnsinn nicht mit. Die übrigen sitzen teilweise schreckensstarr mit weit aufgerissenen Augen da. Wir fallen und fallen. Ich komme mit dem Druckausgleich nicht hinterher. Die Besatzung hat irgendeine Nachricht aus dem Cockpit erhalten und schnallt sich an, als ob wir wenige Sekunden vor der Landung stünden. Dumm nur, dass wir 100 Kilometer auf dem offenen Meer sind. Ich hyperventiliere längst und schaue verzweifelt zu der Stewardess hinüber, die mir schräg gegenüber sitzt. „Are you alright?“, fragt sie, völlig rethorisch. Natürlich nicht, signalisiere ich mit einer Geste. Dazu fällt ihr dann auch nichts mehr ein. Was soll sie auch sagen, wenn sie selbst mit einem Absturz rechnet? Immer noch keine Durchsage aus dem Cockpit. Wahrscheinlich würde die Wahrheit nur Panik auslösen.

Etwa 2000 Meter vor dem Aufprall wird die Kurve flacher, die Maschinen laufen nur noch auf Sparflamme, das Flugzeug ist gespenstisch ruhig. Auch die Klimaanlage sagt seit wenigen Minuten keinen Mucks mehr. Es wird stickig. Die Panik bleibt. Mit meiner Sitznachbarin, einer jungen, blondgelockten Deutschen, versuche ich, mich etwas auszutauschen, vielleicht zu beruhigen. Zwecklos. Wir haben beide Todesangst, unsere Zähne klappern, wir können kaum reden. Dann der schlimmste Moment: Aus der Klimaanlage strömt plötzlich glühend heiße Luft, ein lautes Knacken und Knirschen schießt einmal durch den Rumpf. Jetzt ist es aus, denke ich. Gleich bricht hier Feuer aus, oder es zerreißt uns.  Ich hechele, auch aus Luftnot, hoffe auf eine gnädige Ohnmacht. Ich fühle mich so schrecklich ausgeliefert, mein Körper ist Spielball dieser irren Kräfte, jeden Moment kann er zerdrückt werden oder verschmoren.

Ich denke an Johannes. Was für ein schlechter Scherz des Universums, erst meinen geliebten Mann gegen jede Wahrscheinlichkeit auszulöschen – und nun mich, auf genauso seltene Weise. Die ganze Welt wird mit Gruseln auf die Schlagzeile schauen, die wir gerade schreiben, einen kurzen Moment lang – und sich dann wieder abwenden, als ob nichts gewesen wäre. Ich will das nicht! Ich habe Angst vor den Schmerzen, die mir bevorstehen! Doch es passiert nichts Schlimmeres.  Unser Kriechflug geht weiter, der Hitzeschwall hat nur kurz gedauert. Dann spricht endlich der Kapitän, wie immer kaum verständlich wegen seines Akzents und der miesen Akustik. Er entschuldigt sich lapidar für die Unannehmlichkeiten, sagt irgendwas von Problemen mit der Klimaanlage und dem Kabinendruck. Ach, was! Die Probleme seien behoben, wir würden nun wieder Richtung Amsterdam fliegen und mit leichter Verspätung ankommen. Und so ist es dann auch: Wir drehen zurück auf normalen Kurs, geben Gas, steigen auf, die Klimaanlage spielt wieder Kühlschrank. Nur schlafen können meine Nachbarin und ich noch lange nicht.  Vollgepumpt mit Adrenalin reden wir noch lange sinnloses Zeug. Als wir ruhiger werden, muss ich daran denken, wie schnell das Leben doch vorbei sein kann. Eigentlich hätte ich diese Lektion doch wirklich lernen müssen durch Johannes, oder? Doch die Erkenntnis überrollt mich, als ob sie ganz neu wäre.

Schier endlose Stunden später haben wir Amsterdam tatsächlich heil erreicht. Ich nutze den beinahe heiteren Moment, um die Stewardess nochmal nach der Wahrheit zu fragen. Sie weicht aus. Der Pilot habe keine Zeit für eine Durchsage gehabt, sagt sie.  Er habe jede Sekunde gebraucht um das Problem mit der Lüftung in den Griff zu bekommen. Die offizielle Erklärung lautet nun, dass wir 6000 Meter abgesackt sind, um auf eine sicherere Höhe zu kommen und die Techniker am Boden zu erreichen. Diese hätten dann die Systeme der Klimaanlage aus der Ferne neu gestartet. Danach lief wieder alles. Ich fürchte, die Geschichte war deutlich dramatischer.

In Amsterdam angekommen, ging es übrigens nicht gut weiter: Der Weiterflug nach Brüssel war nach dem Bombenterror abgesagt worden. Schlimmer noch: Jet Airways hatte mein Gepäck verschlampt. Zusammen mit einigen anderen Gepäckstücken. Schon wieder! Aber mich traf es vielleicht am härtesten, denn in dem Koffer war mein Autoschlüssel. Nach Brüssel weiterzureisen war dadurch witzlos. Auf eigene Kosten bin ich also in den Zug nach Wuppertal gestiegen, habe nachmittags bei meinen Schwiegereltern den Wohnungs-Zweitschlüssel geholt, habe in meiner Wohnung den Auto-Zweitschlüssel geschnappt und mich auf den Weg nach Brüssel gemacht. Nachts um eins bin ich dort angekommen, habe ein Taxi zu meinem Auto genommen und habe mich durch die Nacht wieder nach Hause gequält. Doch der ganze Irrsinn ist nicht so recht an mich herangekommen. Ich glaube, das traumatische Erlebnis saß mir noch in den Knochen.

Gestern Abend um 23 Uhr hat hier übrigens ein Kurierdienst geklingelt und meinen Koffer abgeliefert.

Grüner Tee auf flauen Magen

 

Wunsch-Amulette am Weißen Tempel von Chiang Rai.

Wunsch-Amulette am Weißen Tempel.

Seit etwas mehr als einer Woche bin ich nun in Thailand und fühle mich zum ersten Mal gesund und wohl. Nun, besser spät als nie. Ich bin heute mit einem Lied im Kopf wach geworden, es hat mich selbst überrascht, wo das plötzlich herkam. Ich hatte es  für Johannes geschrieben, mit Hilfe von Freunden, trotzdem wohl eher lausig naiv. Aber ich wollte ihm unbedingt eine ganz besondere, musikalische Liebeserklärung machen. Im Text hatte ich Vergleiche mit dem Meer bemüht, wollte sagen, dass er für mich Kompass und Orientierung auch auf hoher See bedeutet. Ein paar einfache Klavier-Begleitakkorde hatte ich in der Nacht vor seinem Geburtstag dann aufgenommen, damit mir beim Singen dazu nicht alles durcheinander gerät. Und so war es schließlich, wie erhofft, ein wunderbarer, leiser Moment, dieser Morgen in dem Ferienhaus mit Blick auf den Gardasee, wo wir mit Freunden den 30. Geburtstag von Johannes gefeiert haben.

Nun bin ich gestern in Chiang Mai angekommen. Die Nase läuft zwar immer noch etwas, aber das könnte auch, wie ich inzwischen erfahren habe, an dem Smog liegen, der hier in diesen Tagen herrscht. Immer um diese Jahrezeit brennen die Bauern in der Grenzregion von Thailand, Myanmar und Laos ihre Felder ab und hüllen Nordthailand damit in eine fiese Dunstglocke. Die Leute husten, Flüge fallen aus, die Sonne scheint manchmal nur wie durch gelbes Milchglas.

Und ausgerechnet dort wo der Qualm am schlimmsten ist, war ich Mitte der Woche, denn dort schlägt auch das Herz des thailändischen Teeanbaus: In Doi Maesalong, nördlich von Chiang Rai, nahe der Grenze zu Myanmar. Das chinesisch-stämmige Dorf pflegt seit rund 25 Jahren intensiv den Teeanbau – und strebt mit taiwanesischer Hilfe nach internationalem Renommée. Dabei will ich nun gerne behilflich sein. Was ich erfahren, gesehen und geschmeckt habe, war schon sehr beeindruckend.

Leider war ich eben nicht gesund. An die Erkältung hat  sich nämlich nahtlos eine kleine Lebensmittelvergiftung angeschlossen. Vielleicht waren es die Muscheln am Abend zuvor? Vielleicht das Eis im Smoothie? Ich passe recht gut auf – aber es gibt hier so viele Möglichkeiten sich etwas einzufangen…  Auf dem abteuerlichen Weg mit Bus und Minibus von Chian Rai in die Berge ging es mir also stündlich schlechter. Nachmittags am Ziel angekommen, habe ich mit meinem Dolmetscher zusammen irgendwie noch eine erste, spannende und hoch informative Teeprobe überstanden, bin danach aber wie tot ins Bett gefallen und bis zum nächsten Vormittag nicht wieder aufgestanden. Die Nacht hatte ich heftiges Fieber.

Also habe ich auch an Tag zwei in Doi Maesalong nur eine einzige Teeplantage besuchen können – zu mehr hat die Kraft nicht gereicht. Aber das war zum Vergleichen richtig und wichtig. Nun wusste ich, wo ich meinen Tee kaufen wollte, wer mein Vertrauen hat. Zum ersten Mal in meinem Leben saß ich außerdem auf einem Motorrad. Als Beifahrer hinter meinem Dolmetscher. Das Fahrzeug hatten wir für für einen Tag geliehen. Führerschein? Hat keinen interessiert. Vertrag, Versicherung, Helme? Gibt es alles nicht. Wir haben dem Jungen, der uns das Motorrad am Hotel vor die Tür gestellt hat, umgerechnet fünf Euro in die Hand gedrückt – das wars. Ich glaube, so läuft das aber auch nur, wenn man fließend Thai spricht. Mein kleiner Helfer hat mich also noch schnell über die steilen, staubigen Straßen zum nächsten Geldautomaten mitgenommen, so konnte ich schließlich noch 20 Kilo Tee direkt kaufen. Eine weitere Sorte wird noch für mich verpackt und in Kürze nach Deutschland geschickt.

Wer zum Weißen Tempel will, muss durch ein Meer der Verzweiflung und der niederen Begierden schreiten.

Wer zum Weißen Tempel will, muss durch ein Meer der Verzweiflung und der niederen Begierden schreiten.

Meinen ersten und bisher einzigen Tempelbesuch dieser Reise habe ich übrigens schon am Montag hinter mich gebracht. Quasi, um dem Unternehmen den Segen zu geben. Tatsächlich: Als ich am Weißen Tempel angekommen war, hat er mich doch sehr berührt, auch wenn ich nicht allzu spirituell, geschweige denn religiös bin. Dieses Jahrhundert-Bauwerk, das noch in den Kinderschuhen steckt, ist doch schon atemberaubend. Am meisten beeindruckt haben mich die Wandmalereien im Tempel selbst, dort, wo nicht fotografiert werden darf. Der Künstler, dessen Lebenswerk der Weiße Tempel darstellt, hat auf der gegenüberliegenden Seite der Buddha-Figur die vergängliche, verderbliche Seite des irdischen Lebens dargestellt. Und das voller Humor, beinahe als Comic! In dem detailverliebten, monumentalen Bild finden sich Michael Jackson, Batman, die Minions und sogar ein Angry Bird – es kann nicht lange her sein, dass dieses Meisterwerk vollendet wurde. Aus dem apokalyptischen Wirrwarr lösen sich befreite Menschen, die an den Seitenwänden des Tempels in Richtung von Buddha fliegen. Wunderbar.

Kein Wunsch kommt weg. Die etwas abgehangeneren dienen als dekorativer Sonnenschutz.

Kein Wunsch kommt weg. Die etwas abgehangeneren dienen als dekorativer Sonnenschutz.

imageimageWie bei Tempeln üblich, gab es auch bei diesem die Gelegenheit, gegen eine Spende ein Blechamulett zu beschriften und an einen Ständer gebunden den Mönchen zu  überlassen. Zigtausende Namen, Grüße und Wünsche hängen dort schon. Diesmal wollte ich mich auch verewigen. Beinahe hätte ich etwas von einem „Erfolg“ geschrieben. Dann hat mich der Gedanke an Johannes überfallen – und ich habe mich ein bisschen für den Egoismus geschämt. Es ist also ein Gedenk-Amulett geworden. Einige Minuten habe ich inne gehalten. Einer der Mönche, die sonst immer so unbeteiligt ihren Pflichten nachgehen, stutzte sichtlich, als er an mir vorbeikam. Trauernde Touristen sind wohl selten.

Wenige Meter weiter gab es dann zu meiner Überraschung gleich noch eine Gelegenheit, diesmal mit etwas anders geformten Plaketten, die unter kleine Kegeldächer gehängt wurden. Dort habe ich schließlich meinen Wunsch für ein erfolgreiches Geschäft angebracht.

 

 

Bis jetzt läuft nur die Nase

Essen auf dem Nachtbasar in Chiangrai Rai: Authentisch, entspannt, lecker.

Essen auf dem Nachtbasar in Chiangrai Rai: Authentisch, entspannt, lecker.

Ich bin sauer auf Jet Airways. Die indische Mittelklasse-Fluggesellschaft hat meine Gesundheit auf dem Gewissen. Während der sieben Stunden Flugzeit zum Zwischenstopp Bombay war es in der Kabine so fürchterlich kalt, wie ich es noch nie erlebt habe. Ein dicker Pulli und zwei Decken haben nicht ausgereicht. Ich war chancenlos. Schon im Landeanflug lief meine Nase. Die trockene Luft an Bord und ein paar hustende Inder dürften mir dann den Rest gegeben haben. Jedenfalls laboriere ich seitdem mit einer Erkältung herum. Ausgerechnet jetzt!

In Bangkok hatte ich zwei unruhige Nächte, in denen ich nicht wusste, ob die Klimaanlage im Hotel mich rettet oder umbringt. Am gestrigen Samstag bin ich dann nach Chiang Rai weiter geflogen. Wer schonmal mit verstopfter Nase gelandet ist, kennt die Schmerzen vielleicht, die entstehen können, wenn der Druckausgleich nicht klappt. Meine Ohren sind jetzt noch zu. Nur den Jetlag habe ich hinter mir. Und einen ersten, schönen Abend in dieser Provinzstadt.

Tagsüber ist es hier mindestens so heiß wie im Rest des Landes, momentan also 37 Grad. Nachts wird es dafür angenehm kühl – aber alles noch T-Shirt-tauglich. Von meiner kleinen Pension aus, die ruhig aber zentral liegt, bin ich am Abend über die Märkte geschlendert. Der allnächtliche „Nightbazar“ ist auch für die Einheimischen ein Treffpunkt. Mittendrin, rund um einen großen Platz voller Klapptische und Stühle, reihen sich winzige Garküchen. Dort sitzen, essen und plaudern hunderte Menschen, auf einer Bühne bieten dazu Gitarrenspieler, Sänger und Tänzer ein wechselndes Programm. Eine herrliche, friedliche Atmosphäre – und das quasi kostenlos, denn selbst die Köstlichkeiten ringsum gibt es für ein paar Cent bis zu zwei Euro. Überhaupt ist hier alles lächerlich billig.

Abgesehen vom Tee. Jedenfalls jener der mir bisher begegnet ist. In meiner Nachbarschaft betreibt eine der größeren Teeplantagen einen eigenen Laden, bietet ein beachtliches Sortiment eigener Produkte an, westlich-schick verpackt, samt englischer Beschreibungen und EU-Biosiegel. Natürlich ist das dann teuer. Die nutzen eben schon die große Spanne der Direktvermarktung und den Touristenaufschlag aus. Zu Vergleichszwecken habe ich trotzdem eine Dose Matcha mitgenommen, zu einem Kurs, bei dem mir selbst ein Drittel noch zu viel als Einkaufspreis wäre. Zum Glück habe ich von meinem thailändischen Helferlein bereits ein paar Preise recherchieren lassen, die mehr Hoffnung machen. Fraglich ist da noch, ob die Qualität für den europäischen Markt ausreicht, ob vielleicht auch Bio drin ist, wo es mangels Lizenz gar nicht draufsteht. Das wird sich zeigen.

Zwischen Café und Bussteig passt immer noch ein Essstand. In diesem Falll mit Popcorn. Es gibt aber auch solche mit panierten, frittierten Insekten.

Zwischen Café und Bussteig passt immer noch ein Essstand. In diesem Falll mit Popcorn. Es gibt aber auch solche mit panierten, frittierten Insekten.

Jetzt muss ich erstmal noch gesünder werden, damit ich ab morgen die Sonne ertragen kann. Der berühmte weiße Tempel, den ich unbedingt sehen wollte, für den aber lange Hosen Pflicht sind, fiel heute schon aus. Dafür hat die Kraft nicht gereicht. Jetzt ist hier später Nachmittag, die Sonne ist im Dunst verschwunden und die Stadt erwacht langsam aus der Hitzestarre. Ich sitze in einem Café am Busbahnhof, schaue mir das Treiben an und freue mich auf auf ein frühes Abendessen, sobald der Nachtbasar wieder öffnet.

Wieder Thailand, nur ganz anders

Frühstück auf thailändisch - in der McDonalds-Variante: Chicken-Porridge mit Ei und Thaigras, dazu keine Apfel- sondern eine Eiertasche.

Frühstück auf thailändisch – in der McDonalds-Variante: Chicken-Porridge mit Ei und Thaigras, dazu keine Apfel- sondern eine Eiertasche.

Da sitze ich also wieder in Bangkok. Ganz plötzlich, so kommt es mir vor. Momentan warte ich darauf, dass ich mein Hotelzimmer beziehen darf. Nichts brauche ich gerade dringender, als ein eine Dusche und ein Bett. Von den vergangenen 45 Stunden habe ich nämlich nur zwei geschlafen. Kein Wunder, dass mir Bangkok so surreal vorkommt. Wobei das Bild, das sich mir just in diesem Moment bietet, auch wirklich grotesk ist: Ich sitze bei McDonalds und alle anderen Tische sind besetzt. Jeder – aber wirklich ausnahmslos jeder Gast ist primär mit seinem Handy beschäftigt, nebenbei vielleicht mit Essen oder seinem Gegenüber. Die Smartphone-Manie ist hier definitiv noch krasser als in Deutschland.

Nun muss ich aber warten. Also der Reihe nach: Dass ich lange vier Wochen nicht gebloggt habe, lag zunächst mal daran, dass mir nichts mehr erzählenswert erschien. Auch mein Witwer-Alltag dreht sich eben in Schleifen. Und irgendwie kommt alles so, wie es andere Trauernde auch schon beschrieben und prophezeit haben. Mal habe ich gute Tage, dann wieder schlechte, mal lähmt mich jeder Gedanke an Johannes, mal treibt mich der Trotz an. Auch das folgende Bild stammt nicht von mir, ich kann es aber bestätigen: Die Trauer ist wie ein großer Felsbrocken, der einem im Weg liegt. Um voranzukommen, muss man ihn abtragen, Schicht für Schicht. Am Ende bleibt nur ein handlicher Stein übrig, den man einstecken und fortan mit sich herumtragen kann. Neulich war es mir, als hätte ich den Kiesel schon in der Tasche. Wenig später merkte ich, dass der dicke Brocken doch noch da ist.

Eine Woche lang hatte ich gute Ablenkung durch Besuch aus London. Männlich, niedlich, lieb und mir sehr zugewandt war er. Das hat vor allem mal gut getan. Auch wenn ich gleichzeitig gemerkt habe, wo meine Grenzen emotional doch noch sind. Sobald da so etwas wie Bindung oder Verbindlichkeit aufkommt, schrecke ich zurück. Nicht dass mich das wundern würde.

Ansonsten drehen sich meine Gedanken und Sorgen aber ganz überwiegend um meine berufliche und finanzielle Zukunft. Seit gestern bin ich offiziell in Wiedereingliederung. Die Kasse zahlt nur noch einen Teil des Krankengeldes, den Rest darf mein Arbeitgeber tragen. Der bin ich nun zufällig selbst, also heißt die Regelung einfach nur: weniger Geld. Dafür mit der Option, nun auch arbeiten zu dürfen. Womit wir langsam zu Bangkok kommen. Denn diesmal ist alles anders als im Oktober.

Ich bin hier auf Geschäftsreise. In den vergangenen Wochen ist mein Entschluss gereift, den Faden mit „dreikraut“ wieder aufzunehmen, der mir im vergangenen Jahr aus den Händen geglitten ist. dreikraut e.K., wer es nicht weiß, ist der Name unter dem ich mit Naturprodukten handeln will, vornehmlich mit besonderen Tees. Vor genau einem Jahr habe ich das Projekt gestartet, im Handelsregister eintragen lassen, viel Geld in erste Einkäufe gesteckt – und dann ruhen lassen, als sich die Krankheit zuspitzte.

Inspiration für dreikraut war – wie könnte es anders sein – mein geliebter Mann. Seine vielschichtige Behandlung bestand unter anderem ja auch aus Weihrauch, Kurkuma und Matcha-Grüntee, die er begleitend einnahm. Alle drei aus guten Gründen. Alle drei hatte ich deshalb zunächst importiert. Und immerhin: Meine dreikraut-Weihrauchkapseln gibt es jetzt schon auf Amazon – und ich kann mit Stolz sagen, dass ich jeden Teil der Herstellung selbst in der Hand habe und mit Sicherheit ein gutes Produkt hinbekommen habe. In den kommenden 13 Tagen werde ich nun in den äußersten Norden Thailands reisen und nach Bezugsquellen für Tee suchen. Dazu in Kürze mehr.

Johannes habe ich sicher im Gepäck. Er ist nicht nur mit dem Anfang dieses Unternehmens verbunden, sondern auch mit seiner Zukunft. Auf dem Sterbebett hat er gegenüber seinen Eltern zu Protokoll gegeben, er wünsche mir „einen Erfolg.“ Er war zu diesem Zeitpunkt schon in jener Welt zwischen Leben und Tod, nicht mehr ganz er selbst. Dennoch hallen die Wort in mir nach. Was für einen Erfolg, haben meine Schwiegereltern gefragt. „Das ist gleich.“ „Ach, damit er stolz auf sich sein kann?“ „Ja genau.“

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