Author: erik (page 3 of 5)

Wieder aufgetaucht

„Keine Nachrichten sind gute Nachrichten“, pflegen meine Schwiegereltern gerne zu sagen, wenn sie länger nichts von ihren Kindern und Schwiegerkindern gehört haben. Ich finde, dass sie da ausnahmsweise mal unrecht haben. Bei mir heißt längeres Schweigen jedenfalls oft auch, dass ich mich verkrochen habe, dass mich Fragen und Fröhlichkeit anstrengen, dass mir vielleicht sogar das Blog schreiben schwer fällt. So erklären sich die anderthalb Wochen, die seit meinem letzten Eintrag vergangen sind. Eine ganze Woche davon war ich vor allem mal niedergeschlagen, müde und antriebslos. An manchen Tagen habe ich nur mein selbst auferlegtes Schwimmtraining geschafft, eher das Minimalprogramm, manchmal auch noch eine Verabredung – trotz allem. Dazwischen die hohe Kunst der Prokrastination: Stundenlang sinnlose Flüge recherchieren, beim Essen durchs nachmittägliche Fernsehprogramm zappen, Tierdokus schauen, wegdämmern. Oder andersrum.

Das ganze war ein Trauerspiel. Im wahrsten Wortsinn. Denn die Trauer hatte sich in diesen Tagen verändert: Ich konnte sie nicht mehr minutenweise an mich heranlassen und dann wieder beiseite stellen Sie war einfach latent da, verfolgte mich wie ein Schatten, verdunkelte die Stunden, lag bleischwer auf meinen Schultern. Es wurde sogar körperlich – jedenfalls glaube ich das. Zeitweise hatte ich Kopfschmerzen oder habe – was besonders unangenehm ist – schlecht Luft bekommen. Dieses Phänomen kannte ich schon, hatte es vor zwei Jahren mal und war deswegen auch beim Arzt. Ein Kortisonspray hat mir seinerzeit Luft verschafft (und nebenbei die Stimme ramponiert). Zur Sicherheit lasse ich trotzdem bald nochmal nachschauen.

Dass ich meinen geliebten Mann jede Nacht in meinen Träumen wieder sehe, brauche ich da wohl kaum zu erwähnen. Leider ist er immer krank. Meine Erinnerungen an den gesunden Johannes sind wohl schon recht blass. Meine Träume bleiben dabei meist abstrakt, reale Orte kommen nicht vor, Kausalität ist unwichtig,  die Szenen folgen nur einer inneren Logik. Und so stehen wir immer wieder mitten im Kampf gegen diese gemeine Krankheit oder sind traurig über deren Ausweglosigkeit. Das kann dennoch wunderschön sein – immerhin ist er dann ja wieder da! Und nach nichts sehne ich mir mehr.

In dem ganzen Trübsinn gab es zum Glück aber auch lichtere Momente. Vielleicht ein Wendepunkt war Mitte vergangener Woche der Besuch meines Ex-Freundes Basti. Zu ihm hatte ich lange Zeit eher ein Großer-Bruder-Verhältnis, schließlich ist er zehn Jahre jünger als ich. Zuletzt hatten wir uns vor zwei Jahren gesehen, danach hat mich zunächst die Krankheit in Beschlag genommen, später war ich enttäuscht darüber, dass er sich in dieser dramatischen Lebenslage nicht mal bei mir meldet. Aber abschließen konnte ich das Kapitel so nicht, dafür stand er mir früher zu nahe. Also habe ich ihn eingeladen, voller Skepsis – und wurde überrascht. In den zwei Jahren der Funkstille hat er sich  grandios entwickelt, ist klarer, reifer und gelassener geworden, hat einen tollen Partner gefunden, ist selbst unter die Lehrer gegangen. Damit hat er sich endgültig aus der Kleiner-Bruder-Rolle gelöst. Das Frühstück mit ihm hat schließlich sechseinhalb Stunden gedauert und irgendwie nicht nur satt sondern auch glücklich gemacht.

Inzwischen gehts mir wieder besser. Am Wochenende war ich in Braunschweig zum – na, klar – Go-Turnier. Ich hatte eine gute Zeit dort und habe vier von vier Spielen gewonnen. Jetzt, am Montagmorgen, zurück am Schreibtisch, schreckt mich auch die Aufgabenliste nicht mehr, die da vergangene Woche lang und länger geworden ist.

Ein geheimnisvoller Gruß

Lange war ich mir sicher, alle nennenswerten, privaten Kontakte von Johannes zu kennen. Grundsätzlich galt das wohl auch. Aber mein geliebter Mann hat auch gerne mal neue Kontakte geknüpft und gepflegt, ohne zunächst viel davon zu erzählen. So hatte er einen Patrick aus Aachen, der selbst an einem Hirntumor leidet, wohl mal erwähnt, viel mehr aber nicht.  Die beiden hatten sich ausgetauscht und offenbar so etwas wie eine Email-Freundschaft aufgebaut.  Jedenfalls hat Johannes auch dort Spuren hinterlassen, wie mir dieser Tage aufgefallen ist. Denn Patrick bloggt auch – allerdings auf Englisch. Er hat von Johannes‘ Tod erst kürzlich erfahren, bereut bitter, dass er ihn nicht mehr hat treffen können und zieht für sich die Lehre daraus „Do it now“.

PostkarteUnd dann war da gestern diese Postkarte im Briefkasten. „Lieber Johannes! Liebe Frau Schweizer, lieber Herr Schweizer“ – hieß es darauf. Ursprung: Kalifornien. Ich war irritiert. Der Absender, soweit ich ihn entziffern konnte, sagte mir nichts. Unsere Adresse stimmte aber. Also habe ich gegoogelt – und siehe da: Die Spur führte zur Klinik Bad Oexen! Ein Ort voller süßer, schmerzlicher Erinnerungen: Dort war Johannes drei Mal zur Reha-Kur. Besonders die erste war voller Hoffnung, verschaffte ihm so viel Auftrieb.

Jener Absender ist dort ein leitender Arzt – allerdings im Kinderhaus. Jetzt dämmerte es mir. Ich rief also an und hatte den Mann wenig später am Ohr. Sehr lieb und ausführlich bestätigte er mir, was ich schon ahnte: Er hatte einen Jungen namens Johannes Schweizer (ohne „t“) mehrfach als Patient betreut.  Der Kleine sah ihn als Lebensretter an und hatte ihm also rührend zu Weihnachten geschrieben. Elf Monate später fand der Arzt dann im Urlaub die Zeit und Ruhe ihm zu antworten. „Er war mir ans Herz gewachsen“, sagte er mir. Also besser spät als nie. Er rief in der Klinik an um sich die Adresse geben zu lassen – und bekam die falsche genannt. „Ihr Mann wäre mir bestimmt auch ans Herz gewachsen“, sagte er noch etwas entschuldigend – und völlig unnötigerweise. Ich weiß doch, wie wertvoll eine enge Bindung zu einem guten Arzt ist. Deshalb freue ich mich einfach, dass nun der kleine Johannes aus Münster doch noch einen Gruß von seinem Lebensretter erhalten wird.

Der Mond ist aufgegangen

Der Esstisch in unserer großen Wohnküche ist verwaist. Seit Johannes nicht mehr da ist, sitze ich lieber auf der Couch im Wohnzimmer. Dabei läuft dann der Fernseher. Und so habe ich heute morgen beim Frühstück die Übertragung der Trauerfeier von Helmut Schmidt gesehen. Hätte mir ja denken können, dass Trauerfeiern nicht spurlos an einem Trauernden vorbei gehen. Was mich letztlich aber umgehauen hat, war dann doch überraschend. Schmidt, so erfuhr ich, hatte sich für die Feier das Lied „Der Mond ist aufgegangen“ gewünscht. Dieses habe ihn sein Leben lang begleitet.

So ging es Johannes und mir auch. Kurz nachdem er krank geworden ist, haben wir angefangen Schlaflieder zu singen. Egal wie schön oder schrecklich der Tag auch war – wir haben ihm einen versöhnlichen, zärtlichen Schlusspunkt gesetzt. Es gab Zeiten, da sind wir gemeinsam ins Bett gegangen, monatelang aber brauchte er mehr Schlaf als ich, also brachte ihn zu Bett, wie es Eltern hoffentliche mit ihren Kindern tun. Auf der Bettkante sitzend, fragte ich dann eher rhetorisch: „Na… noch ein Gute-Nacht-Lied?“ – „Gerne“, war die wohl häufigste Antwort. „Welches?“ Damit hatte Johannes dann die Wahl zwischen vier Liedern. Dieses kleine Repertoire haben wir uns irgendwann mal herausgepickt, die Texte kannten wir auswendig, notfalls lagen sie auch ausgedruckt neben dem Bett.

Der Mond ist aufgegangen
Die Blümelein, sie schlafen
Weißt Du wieviel Sternlein stehen?

Und wenn er besonders erschöpft war, sagte er „… aber nur ein kurzes“. Damit kam dann nur das vierte, nämlich „Guten Abend, gute Nacht“ in Frage.

Meistens hat er mitgesungen. Dabei war er nicht ganz so hoffnungslos unmusikalisch, wie er anderen gegenüber behauptete. Vorher anzustimmen war trotzdem überflüssig, weil er seinen Ton nicht willentlich anpassen konnte. Also haben wir irgendwo losgesungen und uns oft schon nach Sekunden auf eine Stimmlage geeinigt. Je nach Tagesform hat er den Ton dann bis zum Liedende gehalten, erwartete dafür aber auch ein Lob. Ach, war das schön.

Ausgesetzt haben wir das Ritual eigentlich nur, wenn wir  auf Reisen waren. Irgendwie passte es nicht an ein Hotelbett oder in eine Schiffskabine. Sonst aber war es immer da, ein feiner, roter Faden in der Zeit der Krankheit. Selbst in den allerletzten Tagen haben wir noch gesungen. Zuletzt nur noch ich allein für ihn.

Während ich das hier schreibe, läuft noch der Fernseher. Mit einem Ohr höre ich hin und bekomme gleich noch ein Déjà-vu verpasst. „Ein jegliches hat seine Zeit“, sagt der Geistliche. „Geboren werden hat seine Zeit. Weinen hat seine Zeit. Lachen hat seine Zeit.“ Ich mach mal aus.

Kleine Fluchten

Die Tage verstreichen so schnell, dass es mir selbst manchmal unheimlich ist. Gestern saß ich neben Thommy im Kino und habe der Vollständigkeit halber den letzten Teil der „Tribute von Panem“-Saga gesehen, als er mich fragte, was ich denn so getrieben hätte diese Woche. Da bin ich doch ganz schön ins Grübeln und Stottern gekommen.  Es sind so viele kleine Dinge. Und dazwischen eben oft… äh… nichts. Vielleicht ist das aber gar nicht so schlimm. Ich bin zuversichtlich, dass sich mein Leben in einem Jahr deutlich besser anfühlt als heute. Also dürfen die Tage ruhig gehen. Erst recht diese düsteren Wintertage.

Buttergemüse, etwas mehr als "well done". Den Topf habe ich komplett entsorgt.

Buttergemüse, etwas mehr als „well done“. Den Topf habe ich komplett entsorgt.

Am Mittwoch habe ich zum ersten Mal, seitdem mein geliebter Mann gestorben ist, alleine einen kompletten Abend zuhause verbracht. Gegen die Einsamkeit habe ich zwei lange Telefonate geführt und mir derweil in der Küche etwas Einfaches gekocht – ebenfalls Premiere. Alles Kochen und Essen ist mir eigentlich noch zu sehr mit Johannes verbunden, spielte es doch eine zentrale Rolle in unserem Leben. Belohnt wurde ich nicht: Mein Kochen endete in einem kleinen Desaster. Ich habe schon gegessen und will nur noch den  Rest vom Buttergemüse etwas nachgaren lassen. Darüber schlafe ich auf dem Sofa ein und – ihr ahnt es – werde erst durch einen dezenten Brandgeruch wieder wach. Was im Wohnzimmer nur in der Nase kitzelt, ist in der Küche dagegen eine fiese Qualmwolke. Die ist schon überall eingedrungen. Und eine Warnung am Rande: Gründlich verbranntes Buttergemüse stinkt nach Kotze! Schlagartig wurde mir klar, warum manche Wohnungen nach Bränden als unbewohnbar gelten, obwohl sie doch nur verqualmt sind. Seitdem kämpfe ich unermüdlich gegen den Gestank, versprühe stündlich Raumdeo, lüfte – und verkrieche mich ansonsten. Heute, nach drei Tagen, wird es langsam erträglich. Besuch will ich noch immer nicht empfangen.

Es bleibt also dabei: Ich brauche meine täglichen, kleinen Fluchten. Wie gestern das Kino. Oder Sonntag wieder. Oder die vielen Go-Veranstaltungen, bei denen ich jetzt auflaufe. Für Mitte Januar habe ich mir einen Billigflug nach London gebucht, um einen Freund zu besuchen. Mitte Dezember stehen drei Tage Barcelona auf dem Programm. Einfach so. Wer jetzt meint, ich würde mein weniges Geld verschleudern, dem sei noch kurz gesagt, was der Spaß kostet: Ich fliege mit Ryanair von Köln nach Barcelona (El Prat) und zurück für genau 20,40 Euro, inklusive aller Gebühren. Zwei Nächte im zentral gelegenen Einzelzimmer kosten 28 Euro. Zuhause bleiben ist  fast teurer, oder?

Heute, Samstag, habe ich noch nichts vor. Hier drin zu bleiben ist keine Option. Also werde mich wohl ins Auto setzen und irgendwohin ausfliegen. Vielleicht schön in die Sauna. Vielleicht besuche ich auch meine Ex-Stiefmutter (ja, sowas gibt’s) bei Frankfurt. Mir fällt schon was ein.

Was mach ich nur mit…?

imageAnderthalb Wochen bin ich nun zurück und kann zum Glück sagen: Es ist nicht alles Grau in Grau. Natürlich habe ich bessere und schlechtere Tage – und selbst von Stunde zu Stunde wechselt die Verfassung. Aber irgendwie geht es voran, ich wurschtel mich durch. Und manchmal staune ich selbst über Momente der guten Laune, wenn ich lauthals über irgendeinen Blödsinn im Fernsehen lache oder mich abends beim Bier an guter Gesellschaft wärme.

Sogar der Schlaf ist etwas erholsamer geworden, dieser Tage. Heute bin ich beinahe strotzdend vor Energie aus dem Bett gehüpft. Seit einer Woche besitze ich die sogenannte Abo-Card für das Schwimmsport-Leistungszentrum auf den Südhöhen. Bisher bin ich dort fast jeden Tag und schaffe einen halben bis ganzen Kilometer. Routinierte Schwimmer lächeln da nur müde, für mich ist das genau richtig.

Zur Selbstfürsorge gehört auch, dass ich mich nicht mutwillig selbst quäle. In den ersten Tagen nach Johannes Tod habe ich manchmal noch die Wohnungstür geöffnet und betont arglos „Haaalloo…“ in den Flur gerufen, nur um einen Wimpernschlag lang zu spüren, wie schön doch die Normalität wäre und wie schwer gleich danach die unvermeidliche Stille wiegt. Nein, das muss nicht sein. Stattdessen beschäftige ich mich lieber etwas ernsthafter mit Johannes Nachlass. Unseren Freund Kanga habe ich schon eingeladen, damit er bald mal für ein Wochenende aus dem Schwäbischen zu Besuch kommt und mir beim Sortieren hilft. Johannes hat viel Technik angehäuft, die ich nicht einordnen kann, vor allem nostalgische Computer, deren Teile und Zubehör. Bei dem Großteil des Fundus wird mir die Trennung nicht schwer fallen. Hoffentlich.

Viel komplizierter wird es bei den alltäglichen Dingen, der Kulturbeutel im Bad, die Klamotten im Schrank, der Inhalt seiner Geldbörse. Die Sammlung der Plastikkarten ist wie ein Konzentrat aus seinem und unserem Leben: Der Jugendherbergs-Ausweis (vor allem bei der Bestrahlung in Heidelberg gebraucht), die Sonnenstudio-Wertkarte (gelegentlich sind wir da im Winter hin), der Führerschein (er ist auch krank noch lange gefahren), die Bahncard, der Behindertenausweis (der fünf Jahre gilt und den wir doch unbedingt verlängern wollten). Der kleine Kartenstapel liegt in der Küche herum und wird von mir hin- und hergeschoben.

Noch schwieriger: Was soll ich nur mit seinem Trauring machen? Meinen trage ich natürlich bis zum Umfallen. Doch seiner passt mir nichtmal an den kleinen Finger. Als Kette um den Hals getragen, könnte ich ihn verlieren. Das will ich auf keinen Fall riskieren. Und würde er dort überhaupt hingehören? Sollte er nicht möglichst nah bei Johannes bleiben, also irgendwo am Grab? Noch habe ich keine Antwort. Er war ihm so ungeheuer wichtig. Nur einmal, als der viel zu enge Stahl ihm Schwielen verursacht hatte, musste der Ring ein Weilchen an die andere Hand umziehen.

imageA propos Grab: Das hat sich inzwischen stark verändert. Die Friedhofsgärtner haben es so weit aufbereitet, dass es bepflanzbar ist. Und meine Schwiegermutter hat schon einiges an Zeit und Liebe hineingesteckt. Fehlt demnächst noch ein Grabstein – der womöglich gar kein Stein wird, sondern etwas ganz Eigenes, aus Holz zum Beispiel.

Wie sehr mich die Trauer dieser Tage beschäftigt, auch unterschwellig, kann ich übrigens auch ganz direkt ablesen. Der Indikator ist mein Rang beim Go. Jedes Turnier fließt da mit ein – und da ich zur Ablenkung das eine oder andere gespielt habe, ist er recht aussagekräftig. Erst vergangenes Wochenende wollte ich ihn wieder etwas aus dem Keller holen und bin nach Eindhoven gefahren, anderhalb Stunden von hier im holländischen Brabant. Doch das war wohl nix. Nach zwei intensiven, anstrengenden und erfolglosen Partien habe ich die Rückreise angetreten und mir den zweiten Turniertag geschenkt. Wirklich frustriert bin ich wegen dieses Formtiefs nicht. Höchstens erstaunt.

Sehen, riechen, fühlen

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Der Blick aus unserem Wohnzimmer ist derzeit nicht aufbauend.

Trist, grau und kalt ist es, draußen wie drinnen. Die Trauer ist seit meiner Rückkehr viel mächtiger und erdrückender geworden. Vielleicht, weil ich Johannes Tod nun etwas mehr glaube. Vielleicht, weil nun keine Reise mehr ansteht, auf die ich mich konzentrieren kann. Vielleicht aber auch, weil ich mir mehr Trauer zumute. Wenn ich mir eine besonders große Portion davon zutraue, dann verstärke ich meine Erinnerungen noch mit Bildern, Tönen oder – ja, tatsächlich, Gerüchen. Weil ich ganz stark ein Geruchsmensch bin, habe ich zwei seiner getragenen T-Shirts in einer Plastiktüte aufbewahrt. Die Wochen und Monate, die seitdem verstrichen sind, tun der Konserve zwar nicht gut. Ohnehin war sein Körpergeruch zuletzt durch die Krankheit verfälscht. Aber trotzdem: Was da noch drinsteckt, reicht aus, um ihn mir ganz nah heranzuholen. Auch die Bebe-Bodylotion, mit der er sich immer so hingebungsvoll gepflegt hat, habe ich mir heute morgen gegönnt. Sprichwörtlich eine süße Erinnerung, auch wenn sie schrecklich weh tut. Sein Aftershave vertrage ich noch gar nicht. Dessen Geruch fand ich immer dermaßen sexy, dass ich ihm regelmäßig erlegen bin. „Boah, riechst Du gut!“, habe ich dann immer gesagt und  ihn mir kurz geschnappt.

Noch ein Stück Erinnerung will ich teilen: Johannes hat ja die Entwicklung des mutmaßlich größten, schwersten und teuersten Brettspiels der Welt (ach, des Universums!) „Whacky Wit“ mit initiiert und begleitet. Da er außerdem den Rubiks-Zauberwürfel zu seinem Hobby gemacht hat – auch als ergotherapeutische Rechthandübung – liegt es nur nahe, dass er einen Whacky-Wit-Zauberwürfel entworfen hat. Wie man ihn löst, zeigt er der Welt mit einem Video (im April), in seiner ganz eigenen, unnachahmlichen Art: so wunderbar lieb und arglos, ein wenig hölzern und doch verschmitzt. Das ist einfach Johannes, mein geliebter Mann.

Die Reise in Bildern

Von meinen ersten Tagen in Bangkok ist – mangels Smartphone – leider wenig dokumentiert. Gleiches gilt für Singapur, doch da war’s  mir ohnehin zu heiß und zu schwül (nebenan in Indonesien brannten zudem die Wälder, es roch also auch noch schlecht) – da habe ich wenig unternommen.  Auf dem Schiff durfte ich mir dann aber Rainers Super-Kamera ausleihen. „Dann benutzt die wenigstens mal jemand“, meinte er. Stimmt: Kaum an Land, hatte ich sie im Anschlag. Von den fast 800 Fotos, die dabei herausgekommen sind, habe ich hier mal ein Zehntel zusammen gestellt (Texte wie immer in der Vollansicht).

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Plötzlich Herbst

Die Reise ist rum. Was ich so erlebt habe, reiche ich noch in Form von Bildern nach. Mangels Smartphone war das von unterwegs aus recht schwierig. Einen ersten Vorgeschmack gibt es schon im neuen Titelbild, das ich von einem der Gipfel über Hongkong Island aufgenommen habe. Mir gefallen die beiden Ebenen und der große Kontrast darin.

Doch nun bin ich erstmal zurück – und damit auch die Trauer. Gestern Vormittag bin ich in Vohwinkel angekommen – und habe mich zunächst darum gedrückt, in die Wohnung zu fahren. Also habe ich bei meinem Schwiegervater mein Auto in Empfang genommen, war bei der Bank, habe eingekauft, meine Schulden beim Frisör bezahlt und bin dann ganz langsam in die Memeler Straße gefahren. Auf den letzten Metern zur Haustür liefen schon wieder die Tränen. Alles, was die vergangenen drei Wochen so weit weg war, stürzte plötzlich auf mich ein. Es gab mal Zeiten, da war das nach Hause kommen nach dem Urlaub fast so schön wie das Abreisen.

Während der letzten Urlaubstage war ich dagegen wohl gut abgelenkt. Natürlich gab es keinen Tag ohne Gedanken an Johannes. Aber meistens blieben die Gefühle dabei sehr diffus. Nur immer wieder große Fassungslosigkeit. Dieser Brocken ist einfach noch zu groß um ihn zu schlucken. Mein geliebter Mann ist tot! Wie bitte? Ich starre diese Tatsache immer noch ungläubig und entsetzt an.

Erschwerend kommt jetzt der Herbst dazu. Während der vergangenen Wochen in meist tropischen Gefilden hatte ich ganz vergessen, wie schwermütig diese Jahreszeit hier ist. Als ich dann vor dem Vohwinkeler Bahnhof stand, habe ich ganz verblüfft die braunen, gerupften Bäume wahrgenommen. Da fühlt es sich zuhause gleich noch etwas einsamer an.

In der Post liegt auch noch eine späte Kondolenzkarte. Seine Ergotherapiepraxis hat es nun auch mitbekommen, das ganze Team hat unterschrieben, der Text ist sehr persönlich formuliert. Wie gerne sie mit Johannes gearbeitet hätten, steht da. Und dass sie sich gerne erinnern, wie er sie alle mit seinen Fertigkeiten am Zauberwürfel verblüfft hat. Damit berühren sie mich. Auch mich hat er immer wieder beeindruckt. „Ich bin halt ein Wunderknubbel“, hat er mir manchmal mit einem Augenzwinkern gesagt.

Nun muss ich mich erstmal unter Leute begeben. Gestern Abend haben mir schon meine Schwiegereltern gut getan. Heute und morgen fahre ich ins nahe Düsseldorf zum Go-Turnier. An den Spielen selbst habe ich nur mäßiges Interesse. Aber ich brauche die Ablenkung und die Gesellschaft.

Unterwegs mit Johannes

Wo ist eigentlich Johannes geblieben? Während der ersten Chaostage in Bangkok habe ich tatsächlich nur wenig an meinen geliebten Mann gedacht. Zu sehr war ich da mit meinen praktischen Problemen und dieser betörenden, fremden Stadt beschäftigt. Ab und zu ist er in mir kurz aufgeblitzt, wenn ich Dinge getan habe, die prädestiniert waren für uns beide. Etwa, als ich alleine am Sushi-Karussel saß und mir die bunten Teller geangelt habe. Oder bei der Fahrt mit dem Longtail-Boot durch Bangkoks Kanäle. Da hatte ich plötzlich einen Moment des ruhigen Genießens – und sofort fehlte mir Johannes schmerzhaft. Zum ersten Mal nach etwa einem halben Jahr war ich auch wieder im Fitnessstudio. In unser Stamm-Studio in Vohwinkel habe ich es noch nicht geschafft, dafür war ich dann in Bangkok bei Fitness First. Bei dem Training mit Blick auf die dunstige Skyline war er auf Schritt und Tritt dabei, zumal die Übungen an den Geräten immer etwas nach innen gekehrtes sind.

Einen denkwürdigen Moment hatte ich, als ich mehrere Stunden lang mit einem charmanten, jungen Philippino sprach, der als Grundschullehrer in Bangkok arbeitet und mir nachts in einem einschlägigen Etablissement begegnet war. Auf einem Schaukelstuhl, im Halbdunkel einer Dachterrasse, fragte er mich irgendwann nach dem Ring an meiner Hand. Und erfuhr so von Johannes. „Oh my god“, war das Einzige, das er hervorbrachte. Immer wieder. Erst entsetzt, dann klagend, schließlich unter Tränen. So viel Mitgefühl hat mich etwas irritiert, aber auch gerührt. Nun musste ausgerechnet ich also ihn trösten.

Selbst finde ich nach wie vor keinen Trost. Im Gegenteil: Seit ich auf dem Schiff bin, ist Johannes allgegenwärtig. Rund 50 Tage haben wir insgesamt mit Kreuzfahren verbracht. Praktisch alles hier an Bord verbinde ich mit ihm. Das Frühstück schmeckt geradezu nach Johannes, weil es bei Royal Caribbean bei aller Auswahl eben immer die gleichen Dinge gibt und weil wir beiden Spätaufsteher das Frühstück immer alleine zelebriert haben. Besonders schlimm waren – wie erwartet – das Einchecken, der erste Gang an Bord, die Sicherheitsübung an Deck und das Auslaufen. Allesamt eigentlich Momente der Vorfreude, in denen er mir so sehr fehlte, dass ich den Gedanken kaum beiseite schieben konnte. Überhaupt: Meine Verfassung hängt ganz einfach davon ab, wie sehr ich die Erinnerungen an mich heranlasse. Meistens, insbesondere in Gesellschaft, drücke ich lieber den Deckel auf die Gefühle. Am ersten Tag der Kreuzfahrt war das aber kaum zu schaffen. Spätabends, als meine drei Mitreisenden sich schon ins Bett verabschiedet hatten, bin ich also noch nach draußen gegangen, so weit nach vorne auf das Schiff, wie es geht, auf eine einsame Liege im Dunkeln und habe in die schwülwarme, sternenlose Nacht geheult bis ich keine Kraft mehr hatte. Das war dringend nötig.

Es ist knapp vier Jahre her, da hatte ich Johannes in einer ähnlich warmen Nacht auf einem Schiff in der Karibik ins Dunkel des Bugs geführt. Auf einer Bank saßen wir eng umarmt, während kräftiger, warmer Wind an uns zerrte. Ich erinnere nicht mehr die genauen Worte, die ich leise und bedächtig in sein Ohr gelegt habe. Aber ich habe von uns, von dieser Reise und der großen Reise des Lebens gesprochen, die ich gerne mit ihm verbringen wollte, egal wohin sie uns auch führen werde. „Willst Du auch? Willst Du mich heiraten?“ Er hat einen Atemzug lang gezögert, bevor er Ja sagte, aber wohl nur, um diesen magischen Moment noch etwas auszukosten. Die Entscheidung hatte er längst getroffen. Später haben wir dann mit unseren Freunden noch auf die Verlobung angestoßen. Zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben war mir etwas wirklich Großes geglückt.

Unterwegs

Es ist so vieles passiert, seit ich zuletzt aus Bankgkok geschrieben habe. An dieser Stelle sei also nur kurz aufgelistet, was alles eine Erzählung wert gewesen wäre:

  • wie ich die thailändische Go-Association ausfindig gemacht und besucht habe, wo ich mir mit einem einheimischen Schüler zwei spannende Duelle lieferte.
  • wie ich verzweifelt versucht habe, eine Handvoll Thailändisch zu lernen, wie sich die Worte aber jedem Versuch der korrekten Aussprache entzogen haben.
  • wie ich mich Schritt für Schritt dem thailändischen Streetfood genähert habe, bis ich am letzten Tag sogar an vier Ständen zugeschlagen habe (toll!).
  • wieso dieser völlig irrsinnige, scheinbar regelbefreite Verkehr in der Stadt trotzdem auf wundersame Weise funktioniert – und das ganz ohne Hektik, Hass und Hupen.
  • warum ich nach zwei Thai-Massagen in Bangkok unbedingt eine dritte beim nächsten Thailand-Landgang haben will.
  • wie ich in Chinatown zufällig auf die Prozession einer buddhistischen Gemeinde stoßen bin. Das war Tradition ohne Folklore, mit echten China-Böllern, Feuer speihenden Drachen und wilden Trommeln.
  • weshalb Singapur und ich nicht wirklich Freunde geworden sind
  • Wie sich das kleinste Schiff der RC-Flotte bisher im Vergleich zu den Größeren schlägt, die wir sonst immer so gefahren sind.
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